Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Horror-Mitfahrgelegenheit: Der am Steuer einnickende Antisemit

Illustration: jetzt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Die Strecke: von Perpignan nach Madrid

Der Fahrer: Antonio, der Fernfahrer

Horrorstufe: 10 von 10

Einige werden sich an die Zeit erinnern, als das Fernweh noch nicht von einem garstigen, mikroskopisch kleinen Noppen-Hundeball namens Corona gegeißelt wurde und die Grenzen, zumindest für Deutsche, noch in jede Himmelsrichtung offen waren. In dieser Zeit war ich trampen. Von Freiburg nach Madrid. In der letzten Folge der Horror-Mitfahrgelegenheit wurde ich auf der Strecke von Lyon Richtung Südfrankreich beinahe von einem potentiellen Serienmörder entführt und von einer schneeweißen Babykatze gerettet. 

Die andere Fahrt auf dieser Reise, an die ich mich besonders gut erinnere, ist die letzte Etappe von Perpignan nach Madrid. Ich war nach meiner Begegnung mit dem Narbenmann völlig ernüchtert, ging aber davon aus, dass ich den Tiefpunkt der Fahrt hinter mir hatte. Was die akute Bedrohung von Leib und Leben anging, stimmte das auch. Trotzdem war die Fahrt mit Antonio dem Fernfahrer, die darauf folgte, in gewisser Hinsicht noch düsterer. An dieser Stelle möchte ich dementsprechend auch eine Warnung vorausschicken: In diesem Text werden menschenverachtende Aussagen über den Holocaust zitiert. Wir haben in der jetzt-Redaktion entschieden, diese nicht zu streichen, um einen realistischen Eindruck von der Verbreitung von Antisemitismus und geistiger Verrohung zu vermitteln. Außerdem sind wir uns bewusst, dass das Präfix „Horror-“ in diesem Zusammenhang ziemlich leichtfertig wirkt.

Antonio, zu dem ich in den LKW stieg, war Italiener und mit seinem Kleinlaster auf dem Weg von Bukarest nach Madrid. Er war ungefähr 50 Jahre alt und hätte Silvio Berlusconis Bruder sein können. Er trank während der Fahrt reichlich Red Bull. Der Grund dafür sei, wie er mir nach einer Stunde Fahrt verriet, dass er seit 32 Stunden ohne Pause fahre. Ich hatte keine Kraft, mir Sorgen deswegen zu machen, war selbst völlig übermüdet, wollte einfach nur nach Madrid. Außerdem kamen wir nach den Pyrenäen sehr bald in eine völlig ausgetrocknete, menschenleere Mondlandschaft, von der ich nie gedacht hätte, dass es sie in Europa geben könnte. Es war Hochsommer und wir waren auf der neu gebauten Autobahn fast alleine. Hier einen neuen Fahrer zu finden, hätte mehrere Stunden ohne Wasser in der Hitze bedeutet.

Ich fühlte mich verpflichtet, mich ein bisschen in meinem mäßigen Italienisch mit ihm zu unterhalten. Auch, um ihn wach zu halten. Wenn er redete, trug er immer ein selbstzufriedenes Ich-hab-die-Welt-durchschaut-Lächeln. Er fand es lächerlich, dass ich Deutscher war, wo doch Italien das beste Land der Welt sei. Als Beweis führte er alle großen Errungenschaften Italiens an. Die beste Musik zum Beispiel. Er zählte eine lange Liste von Italo-Popstars auf. Ich murmelte halbherzig irgendwas von Bach und Beethoven. Er lachte darüber, wie lächerlich diese Namen klangen und was Deutsch doch für eine hässliche Sprache sei. So weit, so gut.

Dann sagte er: „Aber immerhin habt ihr das größte Genie der Geschichte hervorgebracht: Hitler.“ Dabei lachte er sein dümmliches Berlusconi-Lachen und ich redete mir ein, dass er nur versuchte, lustig zu sein. „Nein, nein, ich meine das ernst!“ 

Diese Fahrt ist jetzt einige Jahre her, aber ich gehe im Kopf immer noch ab und zu mögliche Szenarien durch, in denen ich mich besser verhalte, als ich es tatsächlich getan habe. 

Ich sagte nur verkrampft, dass ich ihm da überhaupt nicht zustimme. Antonio winkte ab, meinte dann, dass eben doch alles nur ein Witz war und schwieg eine halbe Stunde. Ich merkte, wie ihm immer wieder die Augen zufielen. Dann trank er zwei Red  Bull und fing wieder an. Er lobte Hitler und freute sich darüber, wie ich mich empörte. So ging es immer weiter. Er steigerte sich mehr und mehr und irgendwann sagte er widerwärtige Scheiße wie: „Das einzige, was ich Hitler vorwerfe, ist, dass er nicht alle Juden getötet hat.“

Es machte ihm großen Spaß. Wie einem Kind, das ungestraft Schimpfwörter ausprobiert. Ich hatte erst wegen seines andauernden ironischen Lächelns gedacht, dass er sich absichtlich zumindest ein bisschen dümmer stellte. Aber jetzt war klar, dass er ohne jede Fußnote wirklich, wirklich dumm war. Und in seinem Kleinlaster völlig moralisch verwahrlost. Er hatte infantil-grausame Phantasievorstellungen, wie, dass alle Juden im Holocaust in einen einzigen großen Ofen geworfen worden seien. 

Ich will diese hässliche Geschichte nicht unnötig weiter in die Länge ziehen. Es wäre das Richtige gewesen, einfach mitten in dieser Wüste auszusteigen. Es hätte selbstverständlich sein sollen. Die Wahrheit ist aber, dass ich mich bis Madrid schlafend gestellt habe. 

  • teilen
  • schließen