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100 Franken brutto pro Stunde für die Gerichtszeichnerin

Ida wusste nicht, wie man Gerichtszeichnerin wird. So rief sie einfach ihr Vorbild an und fragte.
Foto: Roman Ernst / Bearbeitung: SZ Jetzt

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Was man als Gerichtszeichnerin macht 

Bei Gerichtsverhandlungen dürfen keine Fotos oder Videos gemacht werden. Das soll die Persönlichkeitsrechte der Anwesenden schützen. Wenn Medien trotzdem ein Bild von einem Prozess haben möchten, beauftragen sie mich mit einer Zeichnung. Die wird dann in der Zeitung mit der Berichterstattung zum Fall veröffentlicht. Die Journalist:innen sagen mir zwar, was sie sich ungefähr vorstellen, aber eigentlich bin ich ziemlich frei darin, wie ich es umsetze. 

Bei der Gerichtsverhandlung bekomme ich einen Platz ganz vorne, von dem aus ich alles gut sehen kann. Das Wichtigste ist immer, die angeklagte Person zu skizzieren. Danach mache ich meistens mit den Staatsanwält:innen und der Verteidigung weiter. Meistens arbeite ich unter ziemlichem Zeitdruck, weil man nie weiß, was im Saal geschieht. Einmal wurde das Verfahren zum Beispiel verkürzt und war nach 15 Minuten vorbei. Da muss man aufpassen, nicht ohne Zeichnung dazustehen. 

Wie ich Gerichtszeichnerin geworden bin 

Als Zeichnerin empfinde ich den Gerichtssaal als einen spannenden Ort. Hier treffen sehr spezielle Charaktere aufeinander und die Macht des Gesetzes wird spürbar. Diese Stimmung wollte ich mit meinen Bildern einfangen. Also beschloss ich, mich in eine öffentliche Verhandlung zu setzen. Dort habe ich erst einmal geübt. 

Ich wusste nicht so recht, wie man Gerichtszeichnerin wird. Also suchte ich die Telefonnummer von Erika Bardakci-Egli heraus und rief sie an. Sie ist nicht nur eine bekannte Gerichtszeichnerin für das Schweizer Fernsehen, sondern auch ein großes Vorbild für mich. Sie erklärte mir, dass ich mich mit meinen Arbeitsproben einfach bei den Zeitungen melden muss.  

Vor drei Jahren wurde ich dann das erste Mal beauftragt. Die erste Gerichtszeichnung habe ich in meiner Geburtsstadt Thun gemacht. Bei dem Prozess ging es gleich um Mord, das war schon herausfordernd. Bei meinem zweiten Prozess in Bern saß ich übrigens neben Erika, das war besonders für mich.  

Ich arbeite allerdings nicht nur als Gerichtszeichnerin, sondern auch als Illustratorin und mache Animationen, das habe ich studiert. Das Zeichnen am Gericht fühlt sich für mich wie ein Privileg an, schließlich bekommen die Leser:innen die Verhandlung ausschließlich durch meine Perspektive zu sehen. Generell gibt es nicht viele Gerichtszeichner:innen. Das liegt auch daran, dass Medien nur für Fälle mit besonders großem öffentlichem Interesse überhaupt jemanden engagieren. Und die meisten mit diesem Beruf sind in der Regel über 50. Da bin ich mit Mitte 20 eine Ausnahme.  

Wie mein Tag aussieht, wenn ich einen Auftrag habe 

Die Aufträge bekomme ich meistens sehr spontan, ein oder zwei Tage vorher. Am Verhandlungstag selbst bin ich vormittags für einige Stunden im Gericht. Bis mittags muss die Zeichnung fertig sein, denn die Zeitung braucht das Bild so schnell wie möglich für ihren Artikel. Selbst wenn der Prozess mehrere Tage dauert, bin ich häufig nur am ersten Tag dabei. Das Urteil selbst erfahre ich also meistens auch erst aus den Medien. 

Ein Fall, der mich bis heute beschäftigt 

Es ist immer schrecklich, wenn es um Vergewaltigung und Mord geht. Ein Fall, der mich auch lange danach noch beschäftigt hat, wurde von den Zeitungen der „Höhlenmord am Bruggerberg“ genannt. Ein junger Mann hatte seinen besten Freund in einer Höhle lebendig begraben. Das Opfer ist erfroren. Bis heute bleibt mir die Beschreibung der Gerichtsmedizinerin im Kopf. Sie hat erklärt, was im Körper bei diesem qualvollen Tod passiert. Das hat mich schon aufgewühlt. Besonders schlimm war es, die Angehörigen zu sehen und ihren Schmerz. 

Die Frage, die mir auf Partys immer gestellt wird

Die meisten fragen mich, wie nah mir die Fälle gehen. Tatsächlich komme ich bisher ganz gut damit klar. Durch das Zeichnen kann ich mich von dem Geschehen distanzieren. Ich bin dann im Arbeitsmodus und darauf fokussiert, die Leute ganz genau zu beobachten. Ich schaue mir die Gesichter an, zeichne ihre Hände. Der eigentliche Prozess wird so eher zu einem True-Crime-Podcast, der im Hintergrund läuft. Natürlich gibt es sehr emotionale Momente, aber bis jetzt konnte ich trotzdem immer weiterzeichnen. 

Vorstellung vs. Realität 

Mich hat die Atmosphäre im Gerichtssaal überrascht. Hier spürt man die Macht des Gesetzes. Einzelne Personen entscheiden über richtig und falsch. Und trotzdem gibt es Momente, in denen diese strenge Rollenverteilung aufgehoben wird. Zum Beispiel in der Pause, wenn sich alle – auch die Angeklagten - im Aufenthaltsraum unterhalten. Nur Schwerverbrecher werden abgeführt. Manchmal wollen die Täter:innen dann sehen, wie ich sie gezeichnet habe. Damit hätte ich im Vorhinein nicht gerechnet, dass es überhaupt zu so einer Unterhaltung kommen kann. Um ehrlich zu sein, ist mir das immer ein bisschen unangenehm.  

Das kann eine Zeichnung, was ein Foto nicht kann 

Eine Zeichnung trägt eine eigene Handschrift. Sie schafft es, Gefühle und Charaktereigenschaften von Personen zu zeigen. Man kann Dinge ganz anders betonen als auf einer Fotografie. Der Blick der Betrachter:innen wird praktisch von mir gelenkt. Durch die Zeichnung sind die anwesenden Personen zwar in der Zeitung nicht zu identifizieren, aber man kann sie sich trotzdem vorstellen. Denn der Schutz der Persönlichkeitsrechte steht an erster Stelle. Einmal musste ich meine Zeichnung im Nachhinein am Computer verpixeln, weil der Angeklagte zu gut zu erkennen war. Das hätte für das Opfer Nachteile haben können.   

Grundsätzlich versuche ich, das Geschehen immer möglichst wahrheitsgetreu abzubilden – insofern das durch meinen subjektiven Blick überhaupt möglich ist. Ich überspitze die Situation nicht und gebe der angeklagten Person keinen extra verzweifelten Gesichtsausdruck. Ich zeichne das, was ich in dem Moment sehe.  

Welche Eigenschaft man als Gerichtszeichnerin braucht 

Man sollte auf jeden Fall gut zeichnen können. Ich habe mich schon als Kind dafür begeistert. Im Zug habe ich die anderen Fahrgäste skizziert oder zuhause Portraits gemalt. 

Abgesehen davon sollte man effizient arbeiten und mit Stress umgehen können. Man muss sich sehr konzentrieren  und schnell das Wichtigste einfangen. Denn im Gericht prallt eine besondere Mischung aufeinander: Es müssen wichtige Details erkannt werden und man hat nur wenig Zeit, sie festzuhalten. 

Was der Job mit meinem Privatleben macht 

Ich habe zum Teil eine andere Sicht auf Menschen bekommen. Denn man sieht es niemandem an, was er oder sie getan oder erlebt hat. Dadurch habe ich mich mehr mit dem Thema Verbrechen beschäftigt. Ich fragte mich zum Beispiel, inwiefern Gefängnis eine gute Strafe ist oder welche anderen Möglichkeiten es geben könnte. Ich glaube, seit ich bei Gericht zeichne, gehe ich weniger naiv durchs Leben. Aber ich sehe dadurch nicht in jedem Menschen einen potenziellen Verbrecher. 

Was man als Gerichtszeichnerin verdient 

Ich habe in einem Jahr vermutlich vier bis fünf Aufträge für Gerichtszeichnungen. Meistens arbeite ich so zwischen vier und sechs Stunden für eine Verhandlung. Mein Stundensatz ist 100 Franken brutto. Man kann also definitiv nicht davon leben, aber dieser Nebenjob ist meine Leidenschaft.

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