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Wie mich die Sprache meines Vaters verändert hat

Illustration: FDE

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Weil sie sich in der Medienlandschaft nicht repräsentiert fühlten, haben Malcolm Ohanwe und Marcel Aburakia einen eigenen Podcast gestartet: die „Kanackische Welle“. In der Kolumne dazu schreiben sie hier alle zwei Wochen über Identität, Popkultur, Sexualität, Rassismus, Politik, Sport und vieles mehr – aus einer post-migrantischen Perspektive.

Ein Pausenhof im Münchner Westen. Hier tauschen Kinder ihre Panini-Bilder, Lehrer stehen mit strengem Blick am Rand und ich stehe umringt von einer Horde Kids mittendrin. Neu in der 6. Klasse wird das Kennenlernen meiner Mitschüler*innen erstmal eine DNA-Abfrage. Irgendwie hat sich rumgesprochen, dass mein Papa „Araber“ sei und deshalb wird nachgefragt. „Was esst ihr denn eigentlich zu Hause?“, „Gibt’s bei euch nur Wüste?“, „Reitet dein Papa auf einem Kamel zur Arbeit?“. Auf jede dieser Fragen folgt schallendes Gelächter. Doch der Lärm reißt ab, als ich aufgefordert werde: „Sag mal was auf deiner Sprache!“ Stille. Angespanntes Abwarten. „Into Khara!“ BOOM! Die Meute bricht vor Lachen zusammen. „Intoooo Garaaaaaaa!“, minutenlang grölen die Kids die für sie unaussprechlichen Laute. Ohne zu wissen, was sie damit versuchen mir nachzusprechen: „Ihr seid scheiße!“

Ich bin bilingual aufgewachsen. Mit Mama wird ausschließlich deutsch gesprochen, mit Baba nur palästinensisch. Mein Arabisch reichte damals für kurze Telefonate mit Verwandten. Die üblichen Floskelfragen nach der Familie, meinem Wohlbefinden und dem Wetter bekam ich locker beantwortet, aber versuchte meine Tante damals ein richtiges Gespräch mit mir zu führen, versteckte ich mich lieber peinlich berührt im Kinderzimmer. Besonders für meinen Baba ging das nicht klar. Aber auch er verstand schnell, dass neben Familie-Durchfüttern, wenig Zeit zum Homeschooling blieb.

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Malcolm Ohanwe und Marcel Aburakia wollen mit ihrem Podcast „Kanackische Welle“ eine post-migrantische Perspektive in die Medienlandschaft bringen.

Foto: Nelson Ndongala; Bearbeitung: jetzt

„Es fiel mir schwer, stolz auf meine Herkunft zu sein. Araber sein und auch so reden, bedeutete anders sein“

Da es an öffentlichen Schulen in Deutschland kein entsprechendes Angebot gab, schickten mich meine Eltern also am Wochenende zum Arabisch-Unterricht. Immer samstags, 11 Uhr. Büffeln für die entfernten Verwandten in einem Land, das ich damals nur aus wenigen Besuchen und von den Erzählungen kannte. Noch dazu musste ich dort Zeit absitzen, während meine Freunde ihr Wochenende genießen dürfen. Selbst Zimmer aufräumen oder meine Eltern beim Einkaufen begleiten – mir wäre alles davon lieber gewesen, als das arabische Alphabet erneut durchzugehen. Der Trotz und die Lacher meiner Mitschüler*innen hatten dazu geführt, dass ich kein Arabisch mehr vor ihnen sprechen wollte. Es fiel mir schwer, stolz auf meine Herkunft zu sein. Araber sein und auch so reden, bedeutete anders sein. Und wenn ich damals etwas nicht sein wollte, dann anders. 

Auch die Journalistin Vanessa Vu kennt es, in einer Umgebung aufzuwachsen, in der sie ihre Herkunft nicht immer voll ausleben kann. In ihrem Podcast Rice and Shine spricht sie über ihre vietdeutsche Lebensrealitäten. „Man tut den Leuten so viel Gewalt an, wenn man ihnen eine Sprache wegnimmt, man macht Bande in der Familie kaputt und drückt ihnen eine andere Geschichte auf.“, hat sie uns in unserer Podcast-Folge zu „Gute Sprache, Böse Sprache“ erzählt.

„Als ich merkte, dass mein Arabisch viel schlechter war, als ich gedacht hatte, machte sich eine starke Verlustangst in mir breit“

Auch meine Erfahrung aus der 6. Klasse war für mich der Beginn eines Identitätslimbos, in dem ich mich mal mehr und mal weniger arabisch fühlte. Weniger, wenn Araber gerade schlecht in der Presse standen. Mehr, wenn ich mal wieder meine Familie in der Heimat besuchte. Mit 18 Jahren kam dann mein persönlicher Wendepunkt. Damals besuchte ich das Dorf meines Vaters und hatte keinen sprachlichen Ausweg mehr ins Deutsche. Mein Arabisch reichte gerade so, um mir etwas zu essen zu besorgen, bei Gesprächen saß ich zu oft nur dabei, anstatt mitzudiskutieren. Oft lachten meine Cousins, ohne dass ich verstand, warum. Es war mir peinlich. Als ich merkte, dass mein Arabisch viel schlechter war, als ich gedacht hatte, machte sich eine starke Verlustangst in mir breit. Wie könnte ich überall erzählen, ich hätte palästinensische Wurzeln, aber kann nicht einmal ein Gespräch auf Augenhöhe in meiner vermeintlichen Muttersprache führen? Diese ist auch der Schlüssel zur eigenen Identität. Und der war irgendwo auf meinem Weg in der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft verloren gegangen. 

„Die Sprache meiner Großeltern zu lernen, hat mir gezeigt, wie viel kultureller und intellektueller Reichtum im Türkischen steckt und mir mehr Selbstwert gegeben, was meine Herkunft betrifft“, beschreibt auch die deutsch-türkische Journalistin Merve Kayikci ebenfalls in jener Podcast-Folge ihre Erfahrungen. Sie kennt den Druck einer rein weißen Umgebung auf muslimische Menschen. Erfahrungen, die sie auch in ihrem Podcast „Primamuslima“ teilt. Ohne Vergangenheit hat man keine Zukunft. Meinen eigenen Fortschritt verband ich immer mit anderen Kulturen, da mir die Kultur meiner eigenen Vorfahren nicht zugänglich war. Fließend Englisch und Spanisch sprechen, angloamerikansiche Medien rezipieren. Aber ohne Sprache hast du kein Rückgrat. Und ohne Rückgrat, keinen geraden Gang.

Um meine Würde wiederzufinden, musste ich jahrelange Arbeit in die Entwicklung meiner vernachlässigten zweiten Sprache stecken. Filme, Bücher, Nachhilfe-Unterricht. Nur so konnte ich ein tiefes Selbstbewusstsein entwickeln. Denn in meiner arabischen Sprache steckt meine palästinensische Identität und sie gibt mir ein Gefühl, welches für mich im Deutschen nicht existiert. Und gleichzeitig füllte Deutschsein die andere Hälfte meines Daseins und ich verstand, wie wertvoll es eigentlich ist, gleich zwei verschiedene kulturelle und gesellschaftliche Hintergründe zu kennen und, im wahrsten Sinne, zu verstehen.

„Fehlende Kapazitäten und Lehrermangel sind reale Probleme. Aber ein System, dass Kindern ihre Herkunft madig macht, ist ein noch viel größeres“

Meinen Vater habe ich nie dafür verantwortlich gemacht, dass ich als Kind nicht fließend Arabisch gelernt habe. Wer damit beschäftigt ist, eine Familie durchzubringen, hat keine Muße für privaten Sprachunterricht. Wie so viele Arbeiterfamilien hat das Bildungssystem meine Familie mit diesem Problem alleine gelassen. So gehen über Generationen hinweg migrantische Identitäten verloren. Dabei könnte das deutsche Bildungssystem für viele, die zweisprachig aufwachsen, mehr Normalität schaffen, in dem auch andere Sprachen auf dem Lehrplan stehen. Klar, fehlende Kapazitäten und Lehrermangel sind reale Probleme. Aber ein System, dass Kindern ihre Herkunft madig macht, ist ein noch viel größeres. 

Nach wie vor gibt es da in den meisten Schule nur zwei Sorten von Sprachen: Solche, die man aus wirtschaftlichen und historischen Gründen lernt. Wir alle sprechen mehr oder weniger gut Englisch und kennen den Mehrwert von Weltsprachen wie Spanisch oder Standard-Chinesisch. Oder wir lernen Sprachen aus nachbarschaftlichen Gründen, Italienisch oder Dänisch fallen mir da ein. Es gibt aber eben auch Sprachen, die aufgrund der hohen Anzahl an Muttersprachler*innen eigentlich längst Teil Deutschlands sind. Mein Arabisch, Vanessa Vus Vietnamesisch oder Merve Kayikcis Türkisch. In Deutschland haben schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen familiäre Wurzeln in den arabischen Staaten. Bis zu 125 000 Menschen vietnamesischer Abstammung leben hier. Und bis zu 3 Millionen Menschen haben familiäre Wurzeln in der Türkei. Wir alle wären sehr viel selbstbewusster aufgewachsen, wenn der Lehrplan uns nicht als fremd abgestempelt hätte. So wurde uns allerdings vermittelt: Eure Sprachen sind defizitär und nicht wertvoll genug, gesprochen zu werden. Obwohl wir seit Jahrzehnten in Deutschland leben, werden wir so fremd gemacht.

Um uns zu fördern, muss Mehrsprachigkeit an Schulen integriert werden. Ein allgemeines, freiwilliges Angebot wäre ein erster Schritt,  um den Sprachunterricht in der Migrationsgesellschaft Deutschland grundsätzlich auf die gegeben Diversität auszurichten. Es braucht ein Umdenken in Bezug auf das sehr unterschiedliche Prestige und Image unserer Sprachen gegenüber Englisch oder Französisch. Natürlich wäre eine echte Reform nicht ganz einfach. Dank ausgeprägtem Lehrer- und Expertenmangel fehlt es auch an  Wirtschaftsunterricht, Programmierunterricht und Gesundheits- und Ernährungsunterricht. Gleichzeitig ist in der Sprachenpolitik der EU die Rede davon, dass jeder EU-Bürger mindestens dreisprachig sein soll. Kinder aus Familien mit Migrationserfahrung sind, wenn sie in die Schule kommen, häufig bereits mindestens zweisprachig. Sie werden aber lediglich daran gemessen, wie gut sie Deutsch sprechen und inwiefern sie sich erfolgreich eine prestigereiche und wirtschaftlich international verwertbare Sprache wie Englisch aneignen. Hier reicht im ersten Schritt eine Denk-Reform, auch wenn die vielleicht schwerer zu erreichen ist, als eine echte Schulreform.

Heute ist mein Arabisch auch noch nicht perfekt und wird es wohl auch niemals werden. Da ich aber gerade drei Monate bei meiner Tante im arabischen Dorf verbracht habe, kann ich versichern, dass sich Heimat viel geiler anfühlt, seitdem ich bei jedem Lacher und jeder Diskussion dabei sein kann.

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