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„Für manche Kinder gibt es keinen Platz in ihrer Familie, doch wir haben einen frei“

Illustration: Julia Schubert

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Vater + Mutter = Kind – das war einmal. Heute ist die Frage nach der Familienplanung hochpolitisch. Will man überhaupt welche? Was bedeutet das für die Beziehung? Und wenn man sich dafür entscheidet – geht das dann so einfach? In dieser Kolumne erzählen Menschen von ihrer Entscheidung für und gegen Kinder.

Per Zufall stießen die Studierenden Klara, 28, und Liam, 29, auf das Thema Langzeitpflege. Anstatt wie andere in ihrem Alter ein eigenes Kind zu bekommen, wurden sie Langzeit-Pflegeeltern. Hier berichten sie über ihren Weg zur Pflegeelternschaft und ihr neues Leben mit dem kleinen Finn. Zum Schutz des Kindes wurden die Namen der Protagonisten geändert.

Klara: Dass wir Kinder haben wollten, stand für uns schon früh fest und auch Adoption war immer eine Option. Dass es letztendlich ein Pflegekind wurde, war zunächst eher Zufall. Liam kam eines Tages von einem Treffen mit einer Kollegin nach Hause, die das Pflegekind ihrer Eltern mitgebracht hatte. Sie hatte ihm einiges über das Modell erzählt. Ich habe dann direkt gegoogelt und kurz drauf haben wir uns nochmal beim Jugendamt informiert. Dort sollte im nächsten Monat ein Pflegeeltern-Kurs starten und den haben wir dann einfach mal mitgemacht.

Liam: Bei den wöchentlichen Treffen haben wir alles über den Ablauf der Pflegeelternschaft gelernt. Es ist ja so, dass das Kind zunächst in die Bereitschaftspflege kommt, wenn es akut aus der Familie heraus muss. Danach kommt es dann beispielsweise in eine Kurzzeit-Pflegefamilie und bleibt da maximal ein halbes Jahr, bis es zurück zu den leiblichen Eltern gehen kann. Langzeitpflege hingegen heißt, dass das Kind in der Regel bis zum 18. Lebensjahr bei den Pflegeeltern bleibt. Im Gegensatz zur Adoption kann das Kind aber in dieser Zeit Kontakt zu seiner leiblichen Familie haben. Ein weiterer Unterschied ist, dass Adoptiveltern alle Rechte wie auch „normale“ Eltern besitzen. Bei der Langzeitpflege bekommt das Kind hingegen einen gesetzlichen Vormund, der größere Entscheidungen trifft, beispielsweise in Bezug auf Operationen. Alles andere, wie die Wahl des Hausarztes, des Kindergartens oder der Schule treffen Pflegeeltern aber allein.

Klara: In unserem Kurs haben wir viele Teilnehmer kennengelernt, die keine Kinder bekommen können. Die waren meist so Mitte 30. Wir sind jetzt auch tatsächlich mit 28 und 29 Jahren das jüngste Pflegeeltern-Paar in unserer Stadt. Nach dem Kurs haben wir uns dann entschieden, dass wir gerne ein Kind aufnehmen möchten. Dass wir eines Tages auch noch gemeinsam ein eigenes Kind bekommen, schließen wir aber keinesfalls aus.

Da gab es Kinder von Eltern, die Geschwister sind oder Kinder, die misshandelt wurden

Liam: Die Entscheidung für ein Pflegekind fiel uns auch deshalb so leicht, weil diese Kinder eben schon geboren sind. Sie haben leider keinen Platz in ihrer Familie bekommen, aber wir haben einen Platz frei und dann fanden wir es ungerecht, diesen nicht auch an genau so ein Kind zu vergeben. Trotzdem waren wir noch einmal schockiert, als uns im Jugendamt ein Blatt vorgelegt wurde, auf dem wir ankreuzen sollten, welcher Hintergrund des Kindes für uns in Ordnung wäre. Da gab es dann Kinder von Eltern, die Geschwister sind, Kinder von Prostituierten, Kinder, die HIV haben, eine körperliche oder geistige Behinderung oder auch Kinder, die misshandelt wurden. Das zu lesen, war schon hart. Wir haben dann angegeben, dass eine geistige Behinderung für uns in Ordnung wäre.

Klara: Wir hatten auch erst Sorge, dass wir als Studierende gar nicht für eine Pflegeelternschaft in Frage kommen. Letztendlich war das aber sogar positiv, weil wir so besonders viel Zeit für ein Kind haben. Zudem bekommen wir als Pflegeeltern 700 Euro Unterstützung im Monat, dazu kamen einmalig 1000 Euro für die Erstausstattung sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Somit können wir dem Pflegekind alles ermöglichen. Mit einem eigenen Kind wäre es in unserer Situation finanziell eher schwierig geworden.

Drei Monate nach dem Kurs bekamen wir dann plötzlich einen Anruf. Uns wurde gesagt, dass es einen kleinen Jungen gibt, der eine neue Familie braucht. Wir sollten uns schon mal vorbereiten. In dem Moment haben wir dann doch kurz Panik bekommen und schnell nach einem Kinderbettchen gegoogelt. Nur einen Monat später haben wir den sechs Monate alten Finn dann beim Jugendamt kennengelernt. Er war mit seinen Großeltern da, die sich um ihn kümmerten, seit seine Mutter ihn abgelehnt hatte. Die beiden wussten aber, dass sie ihn langfristig nicht großziehen können und haben sich schweren Herzens dafür entschieden, ihn in eine Pflegefamilie zu geben. Einen Monat lang haben wir Finn dann jeden Tag besucht und uns war schnell klar: Das ist unser Sohn, wir wollen ihn unbedingt bei uns aufnehmen.

Das gibt’s doch nicht, hier schläft jetzt einfach ein Kind!

Liam: Erst als die Entscheidung feststand, haben wir es unseren Familien erzählt. Wir wollten nicht, dass uns vorher jemand reinredet. Klaras Eltern waren ziemlich entspannt, meine sind jedoch eher konservativ und standen der Pflegeelternschaft zunächst skeptisch gegenüber. Auch deshalb, weil man ja oft eher negative Geschichten über das Jugendamt und Pflegekinder hört. Wir haben uns davon aber nicht beeinflussen lassen und uns total auf Finn gefreut. Im Dezember 2018 zog er dann ganz bei uns ein. Und das war echt verrückt. Ich weiß noch, wie wir am ersten Abend ins Schlafzimmer gegangen sind und gedacht haben: Das gibt’s doch nicht, hier schläft jetzt einfach ein Kind!

Klara: Die ersten Tage waren wir auch immer total müde und sind regelrecht ins Bett gefallen. Irgendwie war alles anders und zugleich aber so selbstverständlich, als wäre es schon immer so gewesen. Und jetzt können wir uns ein Leben ohne unseren Sohn gar nicht mehr vorstellen – und unsere Familien sich übrigens auch nicht. Sie kommen regelmäßig vorbei, um den Kleinen zu sehen. Das ist wirklich schön! Und was ich irgendwie witzig finde: Wenn wir einen leiblichen Sohn bekommen hätten, hätten wir ihn tatsächlich auch Finn genannt.

Liam: Nachdem der Kleine anfangs bei uns doch noch etwas gefremdelt hat, hatten wir nach circa einem Monat schon eine wirklich gute Bindung zu ihm aufgebaut. Besonders schön war dann der Moment, als er sich das erste Mal von sich aus nach mir ausgestreckt hat und getröstet werden wollte. Das vergesse ich nie.

Klara: Für mich war es besonders berührend, als er angefangen hat zu sprechen. Natürlich habe ich immer fleißig mit ihm geübt, damit er bloß zuerst „Mama“ sagt. Aber letztendlich war sein erstes Wort dann doch „Papa“. Ich muss zugeben, da war ich schon etwas neidisch. Mittlerweile sagt er natürlich beides, differenziert dabei aber noch nicht so sehr.

Liam: Ich bin der Papa und manchmal ist Klara aber auch der Papa. Manchmal sind wir auch beide die Mama. Aber er zeigt schon oft auf denjenigen, den er dann meint.

„Mensch, der sieht exakt aus wie die Mama!“

Klara: Mittlerweile ist Finn ein Dreivierteljahr bei uns. Für ihn sind wir nun seine Eltern und er ist unser Sohn. Und das sagen wir auch immer. Familie und Freunde wissen natürlich, dass er ein Pflegekind ist, aber Außenstehenden stellen wir ihn einfach immer als unseren Sohn vor. Wir wollen auch nicht, dass ihm ein Stempel aufgedrückt wird.

Witzigerweise werden wir auch oft auf ihn angesprochen und da heißt es dann: „Mensch, der sieht exakt aus wie die Mama!“ Da muss ich dann immer ein wenig in mich reinschmunzeln, nicke dann aber meist nur höflich. Ich frage mich aber wirklich, ob das nur so eine Floskel ist, oder ob die Leute tatsächlich finden, dass wir uns ähnlich sehen.

Es ist jedenfalls wunderbar, eine Familie zu sein und zudem soviel Unterstützung vom Jugendamt zu bekommen. Bei Unsicherheiten und Fragen können wir uns jederzeit an unsere Betreuerin wenden. Sie ist auch immer bei den Besuchskontakten zwischen Finn und seinen leiblichen Eltern dabei und vermittelt.

Trotz allem hatte ich anfangs große Angst, dass man uns Finn wieder wegnehmen könnte und seine leibliche Mutter ihn doch zurück will. Mit diesem Gedanken und dieser Angst müssen wir uns als Pflegeeltern aber leider anfreunden. Allerdings sind alle Beteiligten -  dazu zählen Gutachter, Richter, Personen vom Kinder- und Jugendhilfedienst und Verfahrensbeistände - immer auf das Kindeswohl bedacht. Und wenn das seine Pflegeeltern als Hauptbezugspersonen sieht und schon länger dort ist, wird niemand entscheiden, dass es plötzlich wieder gehen muss.

Liam: Wenn Finn mal 18 Jahre alt ist, dann können wir uns auch gut vorstellen, ihn zu adoptieren. Die Entscheidung überlassen wir aber natürlich ihm. So oder so steht aber für uns fest, dass er für immer unser Sohn sein wird und wir als Eltern umgekehrt auch immer für ihn da sein werden.

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