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Seit ich Dating-Apps habe, kann ich im echten Leben nicht mehr flirten

Illustration: Federico Delfrati

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Solange es keine offizielle Messwerttabelle für analoge Flirt-Skills gibt, kann ich hier schamlos behaupten: Ich konnte mal flirten. Die Nähe des Angebeteten suchen, die Blicke zu einem verschmelzen lassen, dann ein Lächeln wie ein Liebesgeständnis aufsetzen und zuletzt den einen bedeutenden Satz fallen lassen, mit dem alles klar ist. Oder zumindest: Das Ziel fixieren, Augenkontakt halten, die Mimik verbiegen und so das Eis brechen.

Dann habe ich gemerkt, dass ich gar keinen Angebeteten will. Nur Brüste, lackierte Nägel und weiche Haut. Mädels anstatt Jungs. Mit dieser Erkenntnis, diesem Neu-Lesbe-Dasein, hat mein steiler Abstieg zum Flirt-Klemmi begonnen. Ich habe mir auf einmal Fragen gestellt wie: Wie zur Hölle soll ich Frauen ansprechen? Sind die nicht eh alle hetero? Was, wenn mich jemand sieht? Bin ich überhaupt ganz sicher lesbisch?

Dieses Fragen-Karussell hat mich schneller auf Dating-Apps wie Tinder, Lovoo und Her getrieben, als ich „One Night Stand“ sagen konnte. Und so landete ich in einem digitalen Paralleluniversum des Datings, ohne je eine Frau angesprochen zu haben.

Ich bin eine Vollblut-Online-Daterin geworden, die sich nur im Digitalen sicher fühlt

Das hat dazu geführt, dass ich heute nicht mal mehr von weitem auf ein hübsches Holzfällerhemd gucken kann, ohne rot zu werden. Ich bin eine Vollblut-Online-Daterin geworden, die sich nur im Digitalen sicher fühlt.

Wir Vollblut-Online-Dater sind gemütliche Menschen. Liebend gerne kuscheln wir uns in die weiche Baumwolldecke unser Existenz. Freiwillig in eine unangenehme Situation bringen? Schwächen zeigen? Ängste überwinden? Nö. Nichts für uns.

Lieber ein paar schnieke Bilder hochladen und dann swipen und texten. Das kostet keine Sekunde, keine Überwindung, nur einen Wischer nach rechts. Direkte Abfuhr gibt’s gar nicht. Wenn dich jemand nicht will, dann poppt eben kein Match auf. Wen hab ich überhaupt nochmal nach rechts gewischt?

Als Ice-Breaker reicht: Hey, wie geht’s?

Swipen und Texten.

Lisa, Lara, Larissa, Unterscheidungen unwichtig, am Ende mögen sie alle laut Bio David Bowie.

Swipen und Texten.

Dosisweise so viel von sich preisgeben, wie das andere Match einfordert. Sie mag Bücher? Ich auch!

Swipen und Texten.

Schlagfertigkeit und Charme lassen sich ganz prima von der Couch aus, mit langer Überlegung und in Jogginghose, vorspielen.

Swipen und Texten.

Oder vom Klo aus.

Swipen und Texten.

So entstehen auch die romantischsten Kennenlerngeschichten:

„Wo hast du deine Freundin kennengelernt?“, „Beim Sch... “.

Swipen und… das funktioniert so lange, bis man im echten Leben an einen flirtintensiven Ort kommt, ein Club, eine Bar oder eine WG-Party – und irgendwen attraktiv findet. Dann swipt man durch die Luft und merkt, dass es nicht funktioniert.

Bei mir war dieser Moment auf einer linksversifften Hipsterparty im genossenschaftlich genutzten DIY-Space. Dort habe ich eine Wahnsinnsfrau beobachtet und mich trotz ihres Anblicks keine Sekunde gut gefühlt. Sondern ausschließlich miserabel. Weil ich so machtlos war. Ich konnte den Flirt nicht dosieren, sondern hätte mich zu ihr hinbewegen und mit ihr sprechen müssen. Und das alles, ohne zu wissen, was sie mag, wie alt sie ist und ob sie überhaupt auf Frauen steht? Das war zu viel, viel zu viel. Profi im Chat zu sein, brachte mir nichts in diesem Universum.

Ich lehnte also den Rest des Abend bedröppelt an einer provisorischen Smoothie-Bar, mit dem Wissen, dieser Frau nichts bieten zu können, außer ihr wegschielend und mit zittriger Hand ein Handy ins perfekte Gesicht zu halten, auf dessen Bildschirm: „Hey, wie geht’s?“ stehen würde. Im besten Falle noch schönes Bild äh Gesicht äh du bist schön äh magst du David Bowie? in eine andere Richtung zu murmeln. Ich hatte einfach alle Flirtwerkzeuge in meiner Comfort-Zone verloren. Sowohl die Technik, aber auch das für einen Flirt so wichtige Selbstbewusstsein. Ich war unfähig, diese Wahnsinnsfrau anzusprechen.

Zum Flirten optimal, als einzige Instanz ein Problem

Nach diesem Horrorabend löschte ich auf dem Nachhauseweg alle meine Dating-Apps. Vielleicht war mein Hirn ein bisschen zu energetisch von den vielen Apfel-Spinat-Smoothies an der Bar, aber die Vorstellung, dass ich bei einer Apokalypse oder staatlichen Internet-Verbannung (was ich mir vom Ablauf her ungefähr gleich vorstelle), im Zölibat leben müsste, war plötzlich so bildhaft vor meinen Augen. Ich brauchte einen Flirt-Game-Changer.

Das hieß dann am nächsten Tag für mich erst mal, alle Apps erneut zu downloaden. What? Ja, denn unreflektiertes Impuls-Gelösche bringt nichts. Dating-Apps sind als Ergänzung zum Flirten optimal, als einzige Instanz sind sie hingegen ein Problem.

Der nächste Schritt war folglich, meine Komfortzonen-Dauerkarte wegzuschmeißen. Rauszugehen und die Dating-Apps wirklich zur Ergänzung werden zu lassen. Was soll ich sagen? Ich bin gescheitert ohne Ende. Probiert, gescheitert, probiert, gescheitert. Das ging von „Ich habs nicht einmal zu ihr hingeschafft“ bis zu „Ich hab kein Wort herausbekommen“.

Eines Abends in irgendeinem Techno-Club ist es dann aber morgens um vier passiert: Ich suchte die Nähe der Angebeteteten, ließ die Blicke verschmelzen, lächelte wie ein Liebesgeständnis, ließ den alles bedeutenden Satz fallen, und ich weiß noch genau, ich fühlte mich so stark und gut, so mächtig und selbstbewusst. Selbst als sie schräg grinste und brüllte: Ne, sorry, ich steh nicht auf Frauen.

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