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„Zuhause“ bekommt in der Krise eine neue Bedeutung

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Gegenüber, vor der Bar, die jetzt schon seit Wochen geschlossen hat, steht ein Baum. Nicht besonders groß und ich weiß leider auch nicht, welche Art, aber gerade bekommt er Blätter und Knospen. Und abends um acht, wenn die Nachbar*innen aus den Fenstern und von den Balkonen applaudieren, steht die Sonne genau so, dass sie durch die Straße auf den kleinen Baum fällt, und dann leuchtet er rot-orange, als wären Lichter statt Knospen dran. Das ist ein bisschen kitschig, aber auch schön. Vor allem ist es aber sehr beruhigend. Der Baum steht da immer, zu jeder Jahreszeit und auch in dieser Krise, und wenn ich ihn sehen kann, dann weiß ich: Ich bin zuhause und in Sicherheit. Und will gerade nirgendwo anders sein.

Vor eineinhalb Jahren bin ich umgezogen, in eine neue Stadt und in ein anderes Land. Und wie immer, wenn ich umziehe – und ich bin mir sicher, dass das vielen so geht – hatte ich Startschwierigkeiten. Ich fühlte mich noch nicht daheim hier, hatte aber auch kein Zuhause mehr an meinem vorigen Wohnort. Mit der Zeit (und ein paar Möbeln in der Wohnung) wurde das besser. Aber dass ich wirklich angekommen bin, das habe ich erst jetzt gemerkt, in der Corona-Krise, die uns alle dazu zwingt, zuhause zu bleiben – und darüber nachzudenken, wo das ist.

Als die Pandemie immer bedrohlicher wurde und immer mehr Länder Lockdowns verkündeten, war ich gerade im Urlaub. Als mein Freund und ich an einem Abend nach vielen Stunden ohne Internet in ein tristes Motel-Zimmer zurückkamen, wurden wir von der Nachrichtenflut des Tages quasi überrollt. Der einzige Satz, den ich als Reaktion darauf herausbrachte, war: „Ich will nach Hause.“ Und dabei dachte ich nicht an meine alte Wohnung in München oder an das Häuschen meiner Eltern in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, sondern an das Wohnzimmer in Brüssel mit Blick auf den kleinen Baum. 

Als wir dann die verfrühte Rückreise antraten, bot mir eine Freundin an, in ihre Münchner Wohnung zu ziehen, solange sie bei ihren Schwiegereltern ausharrt. Für den Fall, dass die Grenzen zumachen würde, sagte sie. Kurz dachte ich: „Vielleicht eine gute Idee, nicht, dass ich irgendwann nicht mehr nach Hause kann.“ Und merkte noch einmal: „Moment – mein Zuhause ist ja jetzt in Brüssel!“ Da, wo ich das Viertel kenne und in der Wohnung weiß, in welchem Schrank sich was befindet. Da, wo Pflanzen stehen, die ich großgezogen habe, und wo ich weiß, um wie viel Uhr ich den Vorhang zuziehen muss, damit mich die Sonne nicht blendet. Da, wo mein Freund im Sessel sitzt und liest und die Diele vorm Kleiderschrank knarzt, wenn ich ihn morgens öffne. Wo mich keine Überraschungen erwarten. Und das ist vor allem jetzt gerade ein sehr gutes Gefühl.

Alles, was zuhause gut oder schlecht läuft, wird durch die Krise verstärkt

Der Begriff „Zuhause“ (und nicht etwa „Heimat“, das ist noch mal eine andere Nummer) bekommt in dieser Krise neue Bedeutung. Mehr Gewicht. Er taucht ja auch ständig auf. Die sozialen Netzwerke sind voll mit dem Hashtag #stayathome, er wird in Fernsehshows oben in der Ecke eingeblendet, prangt auf Werbeflächen an Bushaltestellen, und Politiker*innen sowie andere Menschen des öffentlichen Lebens appellieren immer wieder: „Bleiben Sie zuhause!“ Viel mehr als sonst wird man dadurch auf diese paar Quadratmeter zurückgeworfen, die man bewohnt, für die man Miete zahlt, die normalerweise ein Ort sind, an den man immer wieder zurückkommt, aber keiner, an dem man sich permanent aufhält. 

So kommt man gar nicht drumherum, darüber nachzudenken, was dieser Ort einem bedeutet, und dann entweder festzustellen: „Ja, das ist wirklich mein Zuhause – denn wenn ich schon irgendwo sehr viel Zeit verbringen muss, dann wenigstens hier.“ Oder aber zu merken: dass man dort weg will. Sich nicht sicher und wohl fühlt. Lieber bei den Eltern oder Großeltern, dem*der Partner*in, einem*r Freund*in oder in einer einsamen Waldhütte wäre, Hauptsache nicht hier. Denn alles, was zuhause gut oder schlecht läuft, was sich an diesem Ort richtig oder falsch anfühlt, wird durch die Krise verstärkt.

Der Begriff bekommt aber auch deswegen so viel Bedeutung, weil jetzt noch viel mehr als sonst deutlich wird, was für ein großes Glück es ist, ein sicheres und warmes Zuhause zu haben. Einen trockenen, warmen Ort, an dem keine Gewalt droht. Einen Ort, der einem sofort einfällt, wenn die Polizei sagt: „Gehen Sie nach Hause!“ Diesen Satz hören zu können, ohne zu erschrecken, traurig oder ängstlich zu werden, ist eines der größten Privilegien während dieser Krise. War es auch davor schon, es war uns nur oft nicht bewusst genug. 

Vielleicht wird sich der Begriff „Zuhause“ auch nach der Krise lange noch anders anfühlen als vorher. In der Frage „Wann kommst du nach Hause?“, der Aussage „Ich gehe mal nach Hause“, der einfachen Information „Ich bin jetzt zuhause“ wird dann womöglich immer noch ein „Ich bin in Sicherheit“ mitschwingen. Ich jedenfalls werde bestimmt ganz anders aufhorchen, wenn jemand in Zukunft „Komm gut nach Hause“ zu mir sagt. An den kleinen Baum und die knarzende Diele denken. Und mich freuen und sehr, sehr dankbar sein. 

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