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Wie ich einmal versuchte, wieder lesen zu lernen

Bildrechte: AllzweckJack / photocase.de

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Es ist soweit, ich google „Lesen lernen“, denn ich kann es nicht mehr.

Mein Freund sagt dazu: „So ein Quatsch, ich kenne niemanden, der so viele Bücher liest, wie du.“

Ich sage: „Du meinst: niemanden, der so viele Bücher kauft wie ich!“

Man darf das nicht verwechseln. Das Problem ist nur, dass ich es in den letzten Jahren selbst zu verwechseln begonnen habe. Schleichend. Je weniger Bücher ich tatsächlich las, desto mehr Bücher kaufte ich – zum Gewissensausgleich quasi.

Woran das liegt? Natürlich liegt es daran, dass es immer noch keine Internet-Führerscheinpflicht gibt. Ich rase durchs World Wide Web als jemand, der es nie besser gelernt hat. 10 000 Punkte habe ich mindestens in der Verkehrssünderdatei des Internets. Ich kann die Finger nicht vom Gaspedal lassen, der Sog der Ablenkungs- und Instant-Gratifikationsmaschine ist zu stark: 735 offene Tabs mit spannenden Artikeln, die ich noch lesen wollte, 456 Youtube-Videos, die ich noch ansehen wollte, zwölf Spotify-Playlisten, die ich noch erstellen wollte, und, nicht zu vergessen, die blaue iMessage-Sprechblase unten in meiner Dockleiste, in der immer einer meiner Freunde darauf wartet, mit mir einen kleinen virtuellen Briefwechsel zu beginnen. Und das sind nur ein paar Beispiele.

Und weil mir die unendlichen Möglichkeiten zur Beschäftigung am Bildschirm dermaßen überbewusst sind, befinde ich mich im chronischen Nervositätszustand und bringe selten irgendetwas zu Ende. Die meisten Texte überfliege ich. Mehr als vier Absätze? Ist das euer Ernst? Glaubt ihr, ich bin unsterblich? Nächster Tab! Ein Verhaltensmuster, das sich längst auf meine Routine beim Lesen von Büchern ausgedehnt hat: Nach ein bis zwei Seiten juckt mich dermaßen die fear of missing out, dass ich checken muss, was woanders los ist. Und wenn da nichts los ist, brauche ich einen anderen Kick. Zur Not fange ich halt an, mein Zimmer aufzuräumen. Was nichts Schlechtes ist. Nur ist es eben nicht lesen. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich beinahe Angst vor der Ruhe, die mich beim Lesen erfasst – ich kenne sie nicht mehr, sie ist mir nicht mehr geheuer.

Total krank. Deshalb mache ich jetzt Reha. Ich lerne wieder lesen.

Und wo lernt man lesen? Im Internet. Dort gibt es natürlich viele, denen es geht wie mir. Ich finde sofort etwa zwölf Anleitungen mit Tipps, mit denen man lernen soll, sich in ein Buch zu versenken, wenn das Internet einem die Konzentrationsfähigkeit verstümmelt hat. Nicht alle leuchten mir ein („Folgen sie den Sätzen, die sie gerade lesen, mit dem Finger“, „Hören Sie Musik, während Sie lesen“, „Lesen Sie Kindern vor“), doch was mir einleuchtet, schreibe ich mir heraus. Die Idee: Wenn ich das befolge, bin ich in spätestens einer Woche wieder die Lesebegeisterte von einst.

Hier sind meine von mir selbst individuell auf mich abgestimmten Lese-Regeln:

Regel 1: Okay, die habe ich nicht aus dem Internet, sondern von Rory Gilmore: Nimm immer ein Buch mit, egal wohin du gehst. (Hier gibt es übrigens eine Liste aller 339 Bücher, die als Referenz in Gilmore Girls auftauchen, will heißen: die die Figur Rory Gilmore gelesen haben soll. Diese Liste abarbeiten zu wollen, spare ich mir für den Kurs „Lesen lernen für Fortgeschrittene“  auf – coming hoffentlich soon!)

Regel 2: Schalte alle Störfaktoren aus. Kein Handy in der Nähe, kein Laptop, keine Musik.

Regel 3: Lies jeden Tag 30 Minuten. Am Stück. 30 Minuten freie Zeit am Stück findet jeder in seinem Tag. Und zwar jeden Tag. Auch ich. Plane diese 30 Minuten ein. Was man nicht plant, vergisst man.

Regel 5: Mach aus diesen 30 Minuten Lesezeit am Tag ein handfestes Ritual: Sitz im selben Lehnstuhl, trink was Schönes, iss Kekse dazu oder rauch meinetwegen feierlich eine Lese-Zigarre.

Ich erinnere mich an eine Autorin, – ich weiß nicht mehr, wer es war und wo – die erzählte, sie würde sich zum Lesen immer ein großes Glas kalte Milch einschenken. Sie liebe das, Lesen und kalte Milch trinken. Das hat mich beeindruckt, weil es mir gleich einleuchtete: das Lesen mit etwas Gemütlichem, Genussvollen zu verbinden. Rotwein tut es natürlich auch, Rotwein tut es immer, aber mit Wein verbinde ich schon Kochen, Essen und Ausgehen, irgendetwas an Milch finde ich fast passender. Ich weiß gar nicht, wie lange ich schon kein Glas pure, kalte Milch mehr getrunken habe – irgendwie aufregend.

Regel 6: Mach dir klar, warum du liest.

Das ist einfach: Ich habe Lesen mal geliebt. Kein Kinofilm, keine Reise ist zu vergleichen mit dem Sog, der dich erfasst, wenn du ein gutes Buch liest und das Wissen um diese permanent verfügbare Parallelwelt dich tagelang durch die echte Welt begleitet. Diese Bilder gehören dir allein, und egal, was draußen los ist, du kannst jederzeit drin verschwinden. Es gibt wenig, was ein gutes Buch nicht lindern oder trösten könnte. Man muss sich das mal vorstellen: Egal wie viele Millionen Menschen dasselbe Buch lesen, keine ihrer persönlichen Visualisierungen der Geschichte gleicht einer anderen. Außerdem gibt es Studien, die beweisen, dass allein sechs Minuten konzentriertes Lesen bereits Stresslevel und Herzschlag senken. Ich will durch das Lesen auch meine chronische Nervosität loswerden.

 

Also, los geht's: 

 

Tag 1

Leichtes Unbehagen, als ich Computer und Handy aus meinem Schlafzimmer entferne und in das mir nun klosterzellenhaft erscheinende Schlafzimmer zurückkehre. Furcht vor der Stille, Furcht vor der entdigitalisierten Einsamkeit. Mehr als auf das Buch, das ich mir ausgesucht habe, freue ich mich auf die Milch. Sahnige Milch aus der braunen Glasflasche, pur und kalt, abgefüllt in ein großes Glas. Wieso habe ich vergessen, wie gut das schmeckt? Bevor ich die erste halbe Seite von Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“ gelesen habe, habe ich drei Gläser kalte Milch getrunken.

Alle paar Minuten schweife ich ab und muss wieder zurück zu dem Absatz, an den ich mich erinnere. Das Buch langweilt mich. Wieso loben es alle so? Exakt die Gedanken, die ich mit neun Jahren auf den ersten 40 Seiten vom ersten Harry Potter hatte.

Nach einer halben Stunde bin ich noch lange nicht im Lesefieber, höchstens im Milch-Fieber. Aber immerhin habe ich die 30 Minuten geschafft.

Tag 2

Es geht lesetechnisch wieder schleppend voran. Milch schmeckt immer noch 1A. Aber wer da im Buch wer ist und was mir da erzählt werden soll, bleibt mir schleierhaft. Die langweiligste halbe Stunde meines Tages. Vielleicht ein anderes Buch nehmen? Noch nicht. Alle paar Minuten leichte Phantomschmerzen, weil weder Computer noch Handy in der Nähe sind, um mal eben irgendetwas nachzuschlagen, das mir während des Lesens durch den Kopf ging.

Tag 3

Milch wie immer super, Buch wird besser. Lese 45 Minuten, ohne es zu merken. Warum habe ich so lange nicht mehr so versunken gelesen? Denke ich, ich bin unsterblich? Nächste Seite!

Tag 4

Keine Milch, da unterwegs im Zug. Buch aber dabei, da ich brav die „Buch überall hin mitnehmen“-Regel befolge. Sitze im geschlossenen Bordrestaurant und denke, mit etwas Schönem zu trinken ginge das Lesen besser. Notiere: Die Ritualisierung hat funktioniert. Zwei Männer kommen vorbei, ich biete ihnen Kekse an, sie bringen mir im Gegenzug ein Jever aus ihrem Gepäck. Schon geht das Lesen besser. Lese eineinhalb Stunden – allerdings ohne Störfaktoren ausgeschaltet zu haben. Chatte zwischendurch mit einer meiner besten Freundinnen. Fotografiere ihr manchmal Lesestellen. Schäme mich einerseits ein bisschen, mich wieder nicht komplett ins Buch versenken zu können, sondern dem Bedürfnis nachzugeben, alles in dem Buch Erlebte sofort zu teilen, was mich jedes Mal aus der Story reißt und es schwer macht, wieder einzusteigen. Merke trotzdem, dass ich das Lesen genieße und dieses Gefühl wahnsinnig vermisst habe. Also: Okay.

Tag 5

Lese nicht. Die 30 Minuten skippe ich einfach, keine Lust. Keine Lust, die Unlust weiter zu analysieren. Gucke auf Youtube Videos über die verschiedensten Omelett-Varianten und wie sie am besten gelingen. Dann eine Reportage über einen Buchbinder. Und einen Herrenschneider. Lese nicht, obwohl ich noch einige Stunden lang nicht schlafen kann. Der Gedanke ans Lesen langweilt mich mehr als das Nichtschlafenkönnen. Will lieber bunte Bilder und was erzählt bekommen. Doch ein schlechtes Gewissen.

Tag 6

Versuche auf dem Weg in die Stadt im Bus zu lesen, komme aber nicht richtig rein. Warte in einem Café auf eine Freundin, und tausche das Buch doch gegen das Handy, um mit einer anderen Freundin zu chatten. Lese nur auf dem Weg nach Hause später einmal ganz kurz in der U-Bahn, kann mich aber nicht drauf einlassen. Abends wieder nicht, weil zu viel zu tun und dann zu müde.

Tag 7

Lese, weil Tag 7 und ich weiß, dass ich bald über das kleine Experiment schreiben muss. Heute zur Lektüre keine Milch, dafür Bier. Schweife immer wieder ab und muss zurück, aber schaffe dann aber doch etwas mehr als 40 Minuten. Finde zum Abschluss allerdings keine Stelle, die mir dringende Lust macht, weiterzulesen. Warum? Das Buch ist immer wieder mal sehr gut und bewegt mich. Dann aber folgen ebenso viele Stellen, denen ich keinerlei Mehrwert oder Erkenntnis abringen kann und von denen ich wünschte, die Lektorin hätte sie einfach rausgestrichen.

Nur: Sagt mir das jetzt etwas über meinen literarischen Geschmack oder ist diese Ungeduld tatsächlich Symptom meiner verkümmernden Fähigkeit, mich über längere Strecken zu konzentrieren? Manfred Spitzer und andere große Panikmacher unserer Zeit würden sicherlich für letzteres plädieren. Wenn ich es genau betrachte, ist es aber von beidem etwas: Einerseits ist meine Toleranz Büchern gegenüber, die mich nicht vom ersten Moment an fesseln, viel geringer geworden, weil ich weiß, wie viele alternative Unterhaltungsmöglichkeiten auf mich warten.

Lesen wieder lernen ist eigentlich einfach. Man muss es nur tun. Und dranbleiben

Andererseits war ich noch nie besonders geduldig, auch vor dem Einzug des Internets in meinen Alltag nicht. Ich hatte schon immer Mühe mit Büchern, die länger als 350 Seiten sind und sich entsprechend viel Zeit für die Darstellung von siebenhundertachtzig Nebenhandlungen lassen. Wenn ich ehrlich zu mir bin, kann ich jene Bücher, die mich wirklich von vorne bis hinten begeistert haben, an drei bis vier Händen abzählen. Durch den Rest habe ich mich so durchgelesen, mal schwer begeistert, mal gelangweilt, hier und da habe ich dann immer mal eine Seite überblättert. Wie viele ich schon aus Desinteresse nach 60 Seiten weggelegt habe? Unzählige. 

Zeit für eine Bilanz meines Lese-Experiments. Erkenntnis Nummer eins: Lesen wieder lernen ist eigentlich einfach. Man muss es nur tun. Und dranbleiben. Erkenntnis Nummer zwei: Das klingt einfach, ist es aber gar nicht – wie jeder weiß, der sich schon einmal vorgenommen hat, wieder jeden Tag laufen zu gehen. Muss man auch nur tun. Vielleicht hilft Erkenntnis Nummer drei: nämlich sich vorher zu überlegen, zu welchem Lager man gehören möchte: Ist man lieber jemand, der jedes Buch, das ihn nicht sofort fesselt, verbannt, um in Hoffnung auf mehr Spannung ein neues auszuprobieren, oder jemand, für den es zum tiefschürfenden Lese-Erlebnis gehört, sich auch durch weniger ergreifende Stellen fleißig durchzuarbeiten und dadurch hin und wieder eine Tiefe zu entdecken, die weniger Geduldigen verborgen bleibt? Und dann dazu stehen.

Doch kommen wir zur überraschendsten Erkenntnis, Erkenntnis Nummer vier: Frische, kalte Milch im Glas ist ein unterschätztes Getränk und völlig zu Unrecht aus der Mode geraten.

Dieser Text erschien erstmals am 20.01.2019 und wurde am 29.01.2021 aktualisiert.

 

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