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Menschen, die ihr Rad schieben, sind die friedlichsten Menschen

Foto: pip / photocase.de

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Derzeit ist mein erster Gedanke am Morgen immer, dass was Schlimmes passiert sein muss. Dann nehme ich mein Handy in die Hand und hoffe, dass da über Nacht keine Eilmeldungen eingegangen sind. Wenn über Tag Eilmeldungen eingehen, habe ich keine Lust, sie zu öffnen. Und gestern habe ich mich ernsthaft erschrocken, als auf dem Bürgersteig neben dem Radweg ein junger Mann hockte, der einen Rucksack auf hatte, und aus dem Rucksack ragte der schwarze Griff eines Softballschlägers. Danach hab ich mir erst mal selbst gesagt, dass ich bescheuert bin.

Und weil das grade so ist, muss man sich dringend mal wieder auf Banalitäten konzentrieren, um aus dem fiesen Gewalt-Angst-Unsicherheits-Strudel rauszukommen. Mir fiel dann nämlich auf, wie friedlich die Menschen neben dem Radweg aussahen. Und am friedlichsten sahen diejenigen aus, die ein Fahrrad schoben. Und dann war ich mindestens 15 Minuten lang verliebt in genau diesen alltäglichen Akt: das Schieben eines Fahrrads.

Wenn jemand sein Fahrrad schiebt, statt es zu fahren, kann das zwei Gründe haben: Entweder, das Rad ist kaputt, oder der Radfahrer ist nicht allein unterwegs. Der erste Fall ist ein blöder Fall, aber der zweite Fall ist ein schöner Fall. Denn in dem hat ja meist einer ein Rad und der andere nicht. Der mit Rad könnte also aufsteigen und losradeln und viel schneller am Ziel sein. Aber er leistet dem anderen Gesellschaft. Sein Rad, das er nebenher schiebt, ist wie ein Symbol für diesen kleinen selbstlosen Akt, alle können es sehen, es steht für die freundliche Botschaft: „Ich muss nicht bei dir sein, aber ich bleibe trotzdem bei dir.“ 

Wenn man mal darauf achtet, fällt außerdem auf, dass Menschen, die ein Rad schieben, immer langsamer gehen als andere. Vielleicht, weil sie ein bisschen umsichtiger sein müssen, immerhin nehmen sie mehr Platz  auf dem Gehweg ein als sonst. Aber vielleicht auch einfach, weil die Entscheidung dafür, ein Rad zu schieben, eh schon eine Entschleunigungs-Entscheidung ist. Wer ein Rad hat und trotzdem schiebt, der hat es nun wirklich nicht eilig. Der kann sich extra viel Zeit lassen.

Die Geräusche eines geschobenen Fahrrads klingen nach Sommer, Ruhe und Zeit lassen

Am Wochenende war ich mit einem Freund und seinem Hund im Park spazieren. Ich hatte mein Fahrrad dabei und schob es eine Stunde lang neben mir her, quer durch den Englischen Garten, obwohl ich es ja gar nicht brauchte. Ich fand das trotzdem super. Ich musste meine Tasche nicht tragen, sondern konnte sie im Korb lassen, ich konnte mich ein bisschen abstützen (Rollator-Effekt!) und ich fühlte mich irgendwie mobiler, als wäre ich nur zu Fuß unterwegs. Weil ja die Möglichkeit bestand, aufzusteigen und loszufahren. So als hätte ich meinen eigenen kleinen Privatjet dabei. Der aber, so ungenutzt neben mir, dafür sorgte, dass ich langsamer und bequemer ging als sonst. Eine ziemliche Win-win-Situation. 

Und dann wäre da noch der letzte, kleine Vorteil eines geschobenen Fahrrads: die beruhigenden Geräusche. Das wunderschöne Freilauf-Klackern (zumindest bei einem klassischen Rad – Fixie my ass!) und außerdem, je nach Untergrund, ein angenehmes, leises Knirschen der Räder (am schönsten: auf Kieswegen). Klingt immer ein bisschen wie in Hörspielen, wenn da ein Fahrrad auftaucht, klingt aber auch nach Sommer und Ruhe und Zeit lassen.

Es klingt friedlich. Fahrrad schiebende Menschen sind friedlich. Wenn es im Flugzeug Turbulenzen oder komische Geräusche gibt, achte ich immer auf die Stewards und Stewardessen. Wenn die noch ruhig sind, bin ich es auch. Draußen auf der Straße werde ich ab jetzt immer auf die Rad-Schieber achten. Wenn es die noch gibt, wenn also kein Grund besteht, auf den Sattel zu springen und abzuhauen, ist alles gut.

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