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Der Zauber gewohnter Orte zu ungewohnten Uhrzeiten

Illustration: Katharina Bitzl

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Heute Morgen war ich in einer anderen Welt. Schwimmbad, kurz nach 7:30 Uhr. Es war nicht das Schwimmbad, das ich kannte. Es war das Morgenschwimmerschwimmbad. Total voll, aber bis auf meditativ eintönige Wassergeräusche totenstill. Keine kreischenden Kinder, keine wachsamen Mütter, keine plaudernden Tratschtanten oder dümpelnden Freundinnen. Keine kichernden Arschbombe-von-Sprungbrett-Teenies, kein Pommesgeruch. Stattdessen ein sanftes Odeur von Chlor und Duschgel in der Luft, und im Wasser ausschließlich stramme Bahnenzieher: dürre junge Frauen vom Typ hochdisziplinierte Mathestudentin, kernige Mittfünfziger- bis Mittachtziger, mit Köpfen taxifahrender Alt-Hippies, aber Körpern von Profi-Athleten. Dazu entschlossene Badekappen-Frauen, wie man sie sonst nur von Fotos finnischer Eisbadender kennt.

Das Morgenschwimmerbad ist nicht derselbe Ort, wie das laute chaotische Nachmittagsschwimmbad. Und es erst recht nicht dieselbe Welt wie meine favorisierte aller Schwimmbadwelten: die geheimnisvoll glitzernde kurz-vor-23 Uhr-Schwimmbadwelt, in der sich jede Bahn halb verboten und ganz unwirklich anfühlt. Die halbe Stadt liegt doch jetzt schon im Schlafanzug im Bett! Viele Bars schließen gerade, und bald stellen selbst die U-Bahnen ihren Dienst ein. Aber hier glitzert noch das Wasser türkis und ein Bademeister plaudert betriebsam mit einem Kollegen? Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Zum Glück hat sich das einer ausgedacht!

Doch wann fällt einem dieses Ort-wechsel-dich-Phänomen eigentlich zum ersten Mal im Leben auf? Im Kindergarten? Wenn die Maikäfer-Gruppe aus dem Turnraum kommt, den auch die eigene Gruppe benutzt, aber eben zu einer anderen Uhrzeit, und man zum ersten Mal checkt: Das ist gar nicht mein Raum, der sieht ja ganz anders aus, wenn da andere Kinder drinnen sind. Danach fühlt man sich fast vom Raum betrogen. Elendiger Schwerenöter, mit jedem hat er seine eigene Intimität. Und man selbst dachte, das, was man miteinander hatte, war exklusiv.

Die Route des Schulbus morgens in der winterlichen Dunkelheit, und die Route des Schulbus am müden, gleißend hellen Nachmittag. Oder wenn du zum ersten Mal spätabends die Aula des Gymnasium betrittst, weil ein Theaterstück aufgeführt wird oder ein Schulfest stattfindet. Die ganze vormittagliche Schulstrenge und Seriösität ist verschwunden, die Gänge zu den Chemiesäälen dahinten im Dunkel. Die hast du nie betreten, da hast du nie Angst vor einer Prüfung gehabt und nie im Eck auf dem filzigen Fußboden die Hausaufgaben abgeschrieben. Kann nicht sein. Die Schulglocke ertönt noch irgendwo im Dunkel, weil sie nun einmal rund um die Uhr stündlich ertönt, aber sie hat keine Bedeutung mehr, erst morgen früh wieder, jetzt klingt sie wie aus der Geisterbahn, ein fernes Echo aus einer angsteinflößenden Welt mit Schulstunden, faden Pausenbroten und Verweisen, wenn man zu spät kommt. 

Später an der Uni ist es das gleiche: Es reicht schon, dass ein anderer Dozent im selben Raum vor der Tafel steht und der Raum ist ein anderer. Es reicht, dass er nicht steht, sondern am Pult sitzt. Es reicht, dass draußen nicht mehr Sommer, sondern plötzlich Winter ist. Weißbier-Faschingsfrühstück im Seminarraum – was hat das noch mit dem Raum zu tun, in dem man vor zwei Tagen die strenge mündliche Prüfung absolvieren musste? Clubs bei Tageslicht sehen, wenn die Putzfrau den fleckigen Boden wischt. Straßenkreuzungen, die du zuerst nicht erkennst, weil du aus einer anderen Richtung kommst. Der lichterlose Weihnachtsmarkt nachts um zwei, wenn statt Glühweintrinkern und nur noch schlafende Tauben da sind oder zwei Dealer, die auf Kundschaft hoffen.

Seltsam auch, sich die Übergangszeiten vorzustellen: Gibt es einen Zeitpunkt, an dem die Bevor-ich-zur-Arbeit-gehe-Menschen im Schwimmbad ihre "Schicht" an die Senioren übergeben, die dann vormittags langsam durchs Becken ziehen? Gibt es diese Übergabe in Supermärkten, in Zügen? Sieht man sie mal? Findet die statt? 

In welchem Moment verwandelt sich ein Seminarraum in einen anderen? Ist es der Moment, in dem der andere Dozent den Raum betritt? Oder der, in dem er zum ersten Mal zu sprechen ansetzt? In dem er seine Handschrift auf die Tafel setzt? Oder ist es womöglich der Einzug seines Aftershave in die Raumluft? Das Klackern der Heels der Dozentin, ihr bis ans andere Ende des Raumes reichendes Grinsen? Die Anordnung der Schüler im Raum, wer sitzt vorn, wer sitzt hinten? Oder nur der plötzlich viel höhere Sonnenstand draußen am Himmel?

Jedenfalls kapiert man das früh: Orte haben genauso wenig eine feste Identität, wie die Menschen. Sie sind ständig im Wandel. Wir sind auch nicht der, für den wir uns halten, wir sind nicht diese statische Identität mit dem Vornamen und Nachnamen, fix, unveränderlich. Was in unserem Pass steht, macht das Wenigste von uns aus. Vor allem sind wir die Menschen, mit denen wir uns umgeben, die Uhrzeiten, zu denen wir irgendwo sind, die Kleidung, die wir tragen, die Wärme oder die Kälte, die uns umgibt, die Schönheit oder die Hässlichkeit.

Und wenn man daran öfter denkt, dann braucht man keine Weltreise um die Routine seines Alltags zu durchbrechen. Das stumpfe Gefühl, alles sei immer und ewig gleich, auch man selbst, lässt sich am einfachsten auflösen, indem man vertraute Orte einmal zu einer völlig anderen Uhrzeit aufsucht. 

Der Zug, den man nur am Wochenende nimmt, ausnahmsweise an einem Pendlermorgen um 8 nehmen. Vormittags im Supermarkt rumstehen statt abends um halb 8. Die eigene Wohnung während eines weinseligen Essens mit Freunden betrachten, und der eigenen Wohnung an einem einsamen Sonntagmittag nachspüren. Der Höhepunkt der Ortsentfremdung: Das Haus besuchen, in dem man aufgewachsen ist. Es steht noch da, aber es hat nichts mehr mit dem zu tun, was es einmal für einen war. Die Kindheit ist weg. Alles ist weg. Was anderes ist jetzt da.

Ich bin morgens ein anderer Mensch als abends. Abends bin ich aktiver, wacher, energiegeladener. Und deshalb gehe ich morgens nicht schwimmen. Aber manchmal tut es gut, es trotzdem zu tun. Und sei es bloß, um einen verwandelten Ort zu erleben. Und sich selbst für ein paar Stunden zu verwandeln. Alles ist dann neu. Plötzlich ist man Morgenschwimmer. Vielleicht zum ersten und letzten Mal im Leben. Aber der Effekt auf das eigene Seelenleben ist derselbe wie nach einem kleinen Abenteuer. Und so eins kann man immer gebrauchen.

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