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Wann darf ich endlich wieder wegschauen?

Foto: istockphoto

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Wenn ich die Welt in zwei Kategorien einteilen müsste, dann würde ich sie in "Augen" und "keine Augen" einteilen. Kategorie zwei (Bürgersteige, Apfelsaft oder von mir aus auch der Kilimandscharo) ist völlig harmlos, lässt sich gleichgültig anglotzen, passt schon. Kategorie eins (Augen) glotzt zurück. Und das ist lästig.

Nicht, dass jetzt Augen an sich schlimm wären. Eigentlich finde ich Augen schön oder zumindest interessant. Aber anders als bei Bürgersteigen oder Apfelsaft muss ich bei Augen ziemlich schnell wegschauen.

Mehr als ein paar Sekunden schaffe ich nicht. In dieser Spanne ist der Blickkontakt frisch und genießbar. Bis er plötzlich kippt und einen seltsamen Beigeschmack bekommt. In kürzester Zeit wird die Intimität dann so dramatisch, dass ich das Gefühl habe, mein Gegenüber wird mir entweder gleich ein Lichtschwert in die Magengrube rammen oder um meine Hand anhalten. Blinzeln kann zwar lindernd wirken, ist aber keine dauerhafte Lösung. Ziemlich bald muss ich das Ganze abbrechen.

Klar – dass langer Blickkontakt unangenehm sein kann, ist keine wirklich erschütternde Erkenntnis. Was aber interessant ist, sind die Extreme. Ich glaube, zwei Typen ermittelt zu haben: Am einen Ende des Spektrums diejenigen, für die es scheinbar nichts Schöneres gibt, als den anderen noch bei den banalsten Gesprächen so fanatisch zu fixieren, als ob sie in jedem Mikrozucken der Augenmuskeln schmuddlige kleine Groschenromane über seine geheimsten Geheimnisse und Sehnsüchte lesen könnten. Natürlich gibt es Situationen, in denen ich einsehe, dass es ein eindeutiger Vorteil ist, bewusst Blickkontakt zu halten. Wenn man einen Job will. Wenn man versucht, einem Inquisitionstribunal glaubwürdig zu erklären, dass man keine Hexe ist. Oder wenn man der Liebe seines Lebens einen Dreier vorschlägt. Aber ich rede hier von Personen, die wirklich zwanghaft aus jeder Situation einen Augenshowdown machen müssen. Als ob wir uns tagtäglich nicht schon mit genug Wettbewerb rumschlagen müssten. Kann nicht wenigstens ein Gespräch über öffentlichen Nahverkehr oder den Unterschied zwischen Crème fraîche und Sauerrahm ohne den Versuch auskommen, dem anderen die Seele klauen zu wollen?

Und dann gibt es diejenigen, die – wie ich – eher ein Problem mit der Sache haben. Viele davon haben durchaus ein gesundes Maß an Empathie, Kommunikationsfreude und Selbstbewusstsein (ein paar sind richtige Rampensäue). Trotzdem, während ihr Gegenüber vor sich hinplaudert, können sie nur denken: „Jesus Christus! Wie lange dieser elende Blickkontakt schon geht! Wann darf ich endlich wieder wegschauen, ohne unhöflich zu sein?“

Aber was unterscheidet uns? Vielleicht hat es was mit Erziehung oder einer besseren Anpassung an kulturelle Normen zu tun. Denn im westlichen Kulturkreis ist der Konsens, dass Blickkontakt beim Gespräch definitiv erwünscht ist. Die Vermeidung von Blicken wird entweder als Desinteresse, Unsicherheit oder Verschlagenheit interpretiert und der Blick geradezu eingefordert: „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Anders als beispielsweise in Ostasien, wo Kindern beigebracht wird, ihrem gegenüber auf den Hals zu schauen. Und wo Blickkontakt kürzer gehalten wird als hierzulande und generell als unangenehmer empfunden wird, wie ein japanisch-finnisches Forscherteam herausfand. Oder es ist ein Geschlechterunterschied. Am niederländischen Institut für Neurowissenschaften stellte man fest, dass Männer sich untereinander besser bei weniger Augenkontakt vertragen und Frauen bei mehr.

Aber egal, wer mit wem – es muss immer einen geben, der zuerst wegschaut. Schon allein deshalb hat Blickkontakt auch viel mit Dominanz zu tun. Bei Scientology beispielsweise wird trainiert, sein Gegenüber durch Starren zu unterwerfen. Und der absolute Endboss auf diesem Gebiet ist die Aktionskünstlerin Marina Abramovic, die 75 Tage lang auf einem Stuhl gesessen,  der Reihe nach Museumsbesucher niedergestarrt und teilweise zum Weinen gebracht hat.

Auch Prof. Dr. Krause, seit 43 Jahren praktizierender Psychotherapeut, widerspricht der Vermutung, dass Blickkontakt manchmal auch einfach Geschmackssache sein könnte: Eine über die Maßen lang anhaltende Suche nach Augenkontakt sei bei gesunden Menschen immer entweder eine Provokation, also der Versuch den anderen zu dominieren, oder Ausdruck des Wunsches nach Aufmerksamkeit und der Versuch, Intimität herzustellen. Sogar das Wort Liebe fiel. Und weil die Augenbewegungen im Gespräch zum größten Teil unbewusst gesteuert würden, seien sie auch grundsätzlich ein relativ guter Hinweis auf solche unterdrückten Absichten. Demnach sei die Vermeidung von Blickkontakt tatsächlich meistens ein Ausdruck von Desinteresse oder Unsicherheit. Grundsätzlich liege die als angenehm empfundene Blickdauer unter einander fremden Menschen ungefähr zwischen zwei und fünf aber nie über neun Sekunden. Und damit wäre gottlob auch mein Blickhaushalt vom Verdacht übertriebenen Geizes befreit: Mit geschätzten zwei bis drei Sekunden bin ich zwar nicht besonders großzügig, aber meine Blickkontakt-Phobie ist noch im Rahmen.

Trotzdem: Weil die Erklärungen der Psychologie mir ein bisschen zu ernüchternd waren, konnte ich es nicht lassen mir eine eigene kleine Theorie zu basteln:

Wenn ich die Welt aus irgendeinem Grund noch mal in zwei Kategorien einteilen müsste, würde ich sie in die Menschen einteilen, die sich während eines Gespräches ihres Blickes bewusst sind und in die, die es nicht sind: Grundgesunde Typen, für die pausenloser Blickkontakt etwas völlig Natürliches ist, etwas, über das man nicht nachdenkt. Diese Menschen haben als Kinder wahrscheinlich auch nackt mit ihren Geschwistern gespielt. Und vielleicht liegt genau hier der Unterschied. Es geht um Unbefangenheit. Wenn wir Blickneurotiker jemandem in die Augen schauen, sehen wir immer auch uns selbst von außen. Durch den anderen. Der begeisterte Augenkontaktler sieht nur uns. Genauso wie er vielleicht auch beim spielen nur seine Geschwister gesehen und halt nicht daran gedacht hat, dass er auch nackt ist. In gewisser Hinsicht wurden diese Menschen nie aus dem Paradies vertrieben. Glückwunsch.

Um pausenlos starren zu können, müsste man also versuchen, hinter den Spiegel zu schauen und den eigenen Narzissmus überwinden. Vielleicht hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass sowohl die eigenen, als auch die Augen des anderen eigentlich nur ein Paar glubbschige Eiweißbälle sind, die in einem Knochengehäuße hin- und herzucken. Aber wer will das schon? Kriegt man ja Alpträume.

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