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„Ich war nie gut darin, Tabus zu haben“

Foto: Aidan Cullen

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Halsey ist der Popstar der Zukunft. Denn in ihren Songs thematisiert sie offen ihre manisch-depressive Erkrankung und die Rückschläge in ihrem Leben. Themen, die junge Menschen weltweit bewegen. 2015 veröffentlichte die Sängerin, die bürgerlich Ashley Nicolette Frangipane heißt, ihr Debütalbum „Badlands“. Jetzt ist das zweite Album der 25-Jährigen erschienen: „Manic“. Im Interview mit jetzt spricht Halsey darüber, wie es war, sich mit 16 alleine in New York durchzuschlagen – und warum sie heute eine ganz andere Frau ist als bei ihrem großen Durchbruch. 

jetzt: Der „Rolling Stone“ nennt dich die „Stimme einer Generation“, du sprichst immer wieder öffentlich zu psychischer Gesundheit, LGBTQ-Rechten und Feminismus. Wie wichtig ist es dir, gesellschaftlich Stellung zu beziehen?

Halsey: Das ist mir sehr wichtig. Ich habe das Privileg, gehört zu werden, und das will ich auch nutzen. Ich bin empathisch und schnell betroffen von den Geschichten, die meine Fans mir erzählen. Und ich hasse Ungerechtigkeit, Mobbing, Sexismus und Rassismus so sehr, dass diese Themen immer wieder ein Wutfeuer in mir anzünden. Mein Mut ist die Folge dieser Wut.

Wie bist du aufgewachsen?

Ziemlich chaotisch. Wir haben in New Jersey gelebt. Meine Eltern wollten das Beste, aber nie lief bei uns irgendetwas nach Plan. Sie waren noch sehr jung, als ich zur Welt kam, gerade erst 20. Es gab kaum Struktur und Regeln.

„Ich hoffe nur, dass mein Bruder nicht auch Musiker werden will. Dieses Leben ist heftig“

Hättest du denn lieber eine andere Kindheit erlebt?

Nein. Ich fühlte mich wohl, ich würde meine Kindheit nicht tauschen wollen. Doch manchmal wäre es schön gewesen, Eltern zu haben, die mir Ratschläge und Hilfe hätten geben können. Ich bin heute manisch-depressiv und habe oft mit mir zu kämpfen. Aber zugleich will ich stark sein – für meine Fans und für meine Familie.

Im Video zu „Clementine“ tanzt du mit deinem jüngeren Bruder durch ein Aquarium.

Ja, mein Bruder Sevian ist dreieinhalb Jahre jünger als ich. Wir hatten immer ein sehr enges Verhältnis. Bis ich 13 war, haben wir uns ein Zimmer geteilt. Okay, das war natürlich superätzend mit so einem Neunjährigen, während ich selbst zur Teenagerin wurde, aber meine Eltern konnten sich nun mal keine größere Wohnung leisten. Im „Clementine“-Video wollte ich eine beklemmende Angst-Atmosphäre schaffen mit bedrohlich großen Schatten von Fischen, die sich, je näher man ihnen kommt, als klein und harmlos herausstellen. Mein Bruder und ich geben uns inmitten dieses Schreckens gegenseitig Halt. Und so hat sich das auch im wirklichen Leben immer für mich angefühlt. Wir alle unterstützen uns sehr.

Du hast noch einen weiteren Bruder, oder?

Ja. Dante ist 14. Ein Junge, der schwer zu beeindrucken ist. Er mag quasi gar nichts. Nein, er ist echt cool und fängt jetzt auch an, Stücke zu produzieren. Ich hoffe nur, dass er nicht auch Musiker werden will. Dieses Leben ist wirklich heftig.

„Ich habe Angst, dass mir alles wieder genommen wird, wenn ich nicht hart genug arbeite“

Du bist mit 16 alleine nach New York gezogen, warst teilweise obdachlos, hast mit Typen geschlafen, um ein Dach über dem Kopf zu haben, warst mit einem Drogensüchtigen zusammen …

Ja. Das ist mein Futter. Ich war nie gut darin, Tabus zu haben. Deshalb macht es mir nichts aus, in meinen Liedern solche krassen Erfahrungen anzusprechen. Aber diese Erlebnisse füttern nicht nur meine Songs. Ich bin auch zur Workaholic geworden – Ich habe Angst, dass mir alles wieder genommen wird, wenn ich nicht hart genug arbeite. Ich setzte mich stark unter Druck. Wenn du anfangs mittellos bist und dann zu Geld kommst, willst du, dass es deiner Familie gut geht, auch hast du Freunde, die sich auf dich verlassen, Angestellte. Das ist richtig viel Verantwortung.

Hattest du als ältere Schwester von zwei Brüdern sowieso früh viel Verantwortung?

Definitiv. Ich war zwölf, als mein kleiner Bruder geboren wurde. Meine Eltern waren ständig arbeiten, und ich passte immer auf ihn auf. Viele der Interessen, die ich entwickelte, waren wegen des Babysittens eher introvertierte Interessen und keine sozialen: zeichnen, lesen, Gitarre spielen.

Das Überraschende an deinem Album „Manic“ ist, wie optimistisch die meisten Songs klingen. Früher war deine Musik ja vorwiegend düster. Ich weiß, dass auch wieder Depri-Tage kommen werden, aber während der gesamten Entstehung der Platte war ich in einer sehr euphorischen Phase. Und das hört man ihr an. „Manic“ hat eine klar humorvolle Note, ich nehme mich nicht mehr so ernst wie früher, auch deshalb gibt es weniger Düsteres.     

„Mit 19 glaubte ich, ich müsste wild, hart und gemein sein“

Woran liegt das?

Wenn du 19 bist, ein Teil der Musikindustrie wirst und deine erste Platte machst, dann willst du nicht, dass die Leute denken „Och, süß, die Kleine“. Du willst mysteriös sein, damit die anderen dich für voll nehmen. Der Wendepunkt war für mich ein Auftritt in der Comedy-Show „Saturday Night Life“. Ich habe in Sketchen mitgespielt, wie alle in dem Team. Ich hatte keine Scheu vor Hässlichkeit und merkte, wie viel Spaß es mir macht, lustig zu sein. Und auch die Leute sahen zum ersten Mal, dass ich witzig sein kann. Da ging eine richtige Lampe über meinem Kopf an. Ich lernte, die Dinge einfach mal laufenzulassen. Ein paar Wochen später fing ich mit dem Album an. 

Magst du die Halsey, die du heute bist?

Schon ja. Die 19-jährige Halsey hätte keinen Schimmer gehabt, wie die 25-jährige wohl sein würde. Die Zwanziger sind die Zeit, um herauszufinden, wer du wirklich bist. Ich habe zum Beispiel allen immer erzählt „Hey, ich bin ein Nachtmensch, der gerne ausgeht und Party macht“. Tja, und jetzt mit 25 akzeptiere ich die Realität.

Nämlich?

Ich bin ein Frühstücksmensch, der gerne den ganzen Tag das Haus nicht verlässt. Mit 19 glaubte ich, ich müsste wild, hart und gemein sein. Aber in Wirklichkeit bin ich nett und lieb und freundlich zu allen. Heute habe ich keine Ahnung mehr, warum ich damals solch eine Bitch sein wollte.

Nein?

Ich glaube, ich hatte Angst, dass mich die Leute nicht interessant genug finden, wenn ich mich so gebe, wie ich bin. Als Teenager habe ich mir selbst ein Narrativ geschaffen – wild, promisk, Partymädchen, kaputt, rücksichtslos. Heute ist mir klar: Ich koche und male gerne, ich will mal einen Mann und Kinder haben, tja, ich habe sogar mit dem Rauchen aufgehört.

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