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„Das Radio ist nicht der Richter, der über Künstler zu urteilen hat“

Michael Jackson im Jahr 2005.
Foto: picture alliance/dpa Fotograf: Mata

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Zehn Jahre nach Michael Jacksons Tod sorgt eine neue Dokumentation weltweit für Empörung. In dem bislang nur in den USA zu sehenden Film „Leaving Neverland“ des US-Senders HBO beschuldigen mehrere Männer Michael Jackson, sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht zu haben.

Daraufhin haben Radiosender in Kanada, Neuseeland, Norwegen und auch bei der BBC bekanntgegeben, sämtliche Songs von Michael Jackson aus dem Programm zu nehmen. Der Sender ProSieben will die Dokumentation  am 6. April ausstrahlen. 

Wir haben mit Ina Tenz unter anderem darüber gesprochen, ob ein solcher Boykott der richtige Schritt ist. Tenz ist Programmdirektorin und Geschäftsleiterin Content von Antenne Bayern, dem größten privaten Radiosender in Deutschland.

jetzt: Als Konsequenz auf den Dokumentarfilm „Leaving Neverland“ haben weltweit einige Radiosender beschlossen, keine Songs von Michael Jackson mehr zu spielen. Ist das in Ihrer Redaktion auch ein Thema?

Ina Tenz: Wir mussten uns damit auseinandersetzen und haben das Thema intern diskutiert. Wir sind aber zu dem Ergebnis gekommen, die Songs von Michael Jackson nicht aus der Rotation zu nehmen. Das bedeutet nicht, dass wir die Debatte um Kindesmissbrauch ignorieren oder Missbrauch gar tolerieren. Aber die Lage ist insgesamt diffus.

In der Dokumentation äußern sich die Opfer viele Jahre später, Michael Jackson kann sich dazu nicht mehr äußern. Zudem gab es zwei Prozesse zu dem Thema, die beide nicht zu einer Verurteilung Jacksons geführt haben. Der Film bringt keine neuen Beweise und Michael Jacksons Familie dementiert alle Vorwürfe. Ich glaube generell, dass diese Boykotte nichts zur Aufklärung der Sache beitragen. Sie bringen nur den Radiosendern Aufmerksamkeit.

Die Haltung mancher Programmplaner scheint zu sein: Der „King of Pop“ ist nicht aus dem Programm zu verbannen, dafür ist er zu relevant und zu wichtig, sein Einfluss zu groß.  Ist er sozusagen „too big to fail“, weil er künstlerisch so relevant ist?

Das ist nicht so leicht zu sagen. Generell vermissen Hörer keine Songs, die wir nicht spielen. „Too big to fail“ ist für uns kein Kriterium. Die Ergebnisse der  Tests, wie Songs bei unseren Hörern ankommen, sind ausschlaggebend dafür, ob es ein Song in unsere Rotation schafft oder nicht. Die Songs, die wir von Michael Jackson spielen, thematisieren keinen Missbrauch. Deshalb sehen wir auch keinen Anlass, sie aus dem Programm zu nehmen, vor allem nicht, weil unsere Hörer sie hören wollen. Dagegen haben wir intern schon vor längerer Zeit beschlossen, den Song „Jeanny“ von Falco nicht mehr zu spielen, weil in diesem Werk Missbrauch toleriert wird. Und in dem Fall haben wir uns übrigens gegen einen Song entschieden, der bei unseren  Hörern sehr gut angekommen ist.

Wie ist denn Ihre grundsätzliche Haltung bei dem Thema? Muss man Werk und Künstler trennen?

Das sehe ich so, ja. Um mal ein Beispiel aus einem anderen Bereich zu bringen: Der Maler Paul Gauguin hat eine 13-Jährige geheiratet und seine Werke sind trotzdem weiterhin in allen Museen der Welt zu sehen. Ähnliche Vorwürfe gibt es auch bei Künstlern der Brücke-Gruppe, die von Minderjährigen Akte gemalt haben. Da denkt keiner darüber nach, wenn er vor dem Bild steht.

Ist es ein Unterschied, ob zum Boykott eines lebenden Künstler, wie R. Kelly aufgerufen wird, dem Sex mit Minderjährigen vorgeworfen wird, oder eines Toten, wie Michael Jackson?

R. Kelly kann sich jedenfalls gegen die Vorwürfe und die Boykottaufrufe wehren und dazu Stellung beziehen, das kann Michael Jackson nicht mehr. Das Radio ist nicht der Richter, der über Künstler zu urteilen hat. Und was trägt so ein Boykott denn überhaupt zur Debatte bei? Ich glaube, das ist relativ kurzsichtig und ich würde das eher als eine publikumswirksame Handhabe betrachten.

Warum?

Die Haltung der BBC, nach Ausstrahlung der Dokumentation die Songs von Michael Jackson aus dem Programm zu nehmen, war jedenfalls sehr pressewirksam, die Nachricht hat sich immerhin weltweit verbreitet. Ich denke, dass so eine Aktion nichts zum Opferschutz beiträgt oder gar zum Schutz von Kindern. Das ist mir einfach zu kurz gedacht. Zudem ist in Deutschland der Film „Leaving Neverland“ unseren Hörern nicht einmal zugänglich und ich würde es für absolut überstürzt halten, da jetzt irgendwelche Schlüsse zu ziehen.

Bleibt das Thema weiterhin bei Ihnen auf der Tagesordnung?

Wir behalten es definitiv im Blick und schauen uns die weitere Entwicklung an. Sollte sich der Verdacht erhärten, dann würden wir den Fall auch noch mal neu bewerten.

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