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Lil Nas X und sein Kampf um die Country-Charts

Sein Song „Old Town Road“ ist der erfolgreichste Rap-Song der Geschichte.
Foto: AP/Eric Lagg

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Montero Lamar Hill pennt bei seiner Schwester auf dem Boden. Der 19-Jährige hat Angst zu seinen Eltern nach Hause zu kommen, weil es richtig Ärger geben wird. Er hat nur drei Stunden geschlafen, wie fast jede Nacht. Die Schule hat er geschmissen. Er tut alles, um sich seinen Traum von der großen Musikkarriere zu erfüllen, bastelt Nächte lang an seinen Liedern und seiner ungewöhnlichen Vision Country mit Trap zu vereinen. Dann veröffentlicht er unter dem Künstlernamen Lil Nas X den Song „Old Time Road“. Fast über Nacht entdecken ihn Millionen Jugendliche auf der Musik-App TikTok, in der man seine eigenen Lipsync-Videos zu Songs aufnehmen und veröffentlichen kann. Innerhalb weniger Wochen katapultieren Spotify und iTunes den Song in die Radiosender, in den Mainstream und somit auch in die Billboard-Charts.

Plötzlich steht Old Town Road auf Platz 36 der HipHop-Charts und gleichzeitig auf Platz 19 der Billboard-Country-Charts. Nicht viele Schwarze haben es in die Country-Charts geschafft. Auch Lil Nas X wird nur kurz darin vertreten sein. Nicht, weil der Hype um seinen Song einbricht, sondern weil Billboard sagt, sie hätten einen Fehler gemacht. Nach genauerer Betrachtung sei man zu dem Schluss gekommen, dass Old Town Road zwar durchaus Referenzen zur Country-Musik und Cowboy-Symbolik hätte. Aber: „Es umspannt nicht genügend Elemente aktueller Country-Musik, um in dieser Version zu charten“, sagt ein Pressesprecher dem Rolling Stone.

Taylor Swift hatte nie Probleme, mit ihren Pop-Balladen als Country durchzugehen

Vollkommen richtig, sagen die einen, ein bisschen Banjo bedeutet nicht gleich Country. Sie sehen in dem Lied eine Parodie, die Cowboy-Stereotype aufgreift, um Erfolg zu haben, eine Assimilierung durch einen Außenseiter. Es ist eine Debatte, die Rappern sehr bekannt vorkommen muss, denn auch sie wehren sich gegen Musiker aus anderen Genres, die ihren Stil für den Erfolg stehlen. Lil Nas X habe sich des Country-Labels bedient, um schneller in den jeweiligen Charts aufzusteigen, sagt beispielsweise Country-Größe Danny Kang.

Die anderen sagen, der Rauswurf aus den Charts sei eine rassistische Entscheidung. Country lehne schwarze Musiker ab. Taylor Swift beispielsweise hatte nie Probleme, mit ihren Pop-Balladen als Country durchzugehen. Shane Morris, der laut eigenen Angaben früher für ein großes Country-Label gearbeitet hat, sagt, die Branche habe ein tief verwurzeltes Rassismus-Problem.

Sein Tweet wird 14 000 Mal geteilt. Shane Morris sagt, Lil Nas X habe gerade dieselben Schwierigkeiten wie Ray Charles, als er seine Karriere startete und Country-Songs coverte. Es entflammt eine Debatte über Rassismus in der Country Musik, aus der sich Lil Nas X zunächst raushält. Auf Twitter reagiert er auf den Ausschluss recht einsilbig: „😔“. Später erklärte er in einem Interview mit dem TIME-Magazine: „Wenn du etwas Neues ausprobierst, wirst du immer negative Reaktionen bekommen.“ Auch andere seiner Tweets zeigen: Nachvollziehen kann er die Entscheidung der Country-Charts nicht.

Doch die Kontroverse kann den Erfolg des Songs und seines Schöpfers nicht aufhalten. Die Fans beider Genres, Trap und Country, hören den Song weiterhin. Die Mischung aus Banjo und Cloudrap, Cowboys und Codein trifft einen Nerv. „Ridin' on a tractor. Lean all in my bladder. Cheated on my baby. You can go and ask her. My life is a movie. Bull ridin' and boobies. Cowboy hat from Gucci. Wrangler on my booty“, heißt es in dem Song. Die Lyrics malen ein Bild zwischen Western- und urbanem Lifestyle. Einige sind der Meinung, der Song könnte reparieren, was die Politik zerstört hat: „Old Town Road“ habe das Potenzial, das gespaltene Land wieder zu vereinen. Die moderne, weltoffene Jugend und alte, amerikanische Originale. Den Bible-Belt und die Metropolen. Ein schöner Traum.

Ein Aufstieg, ermöglicht durch eine App, eine ungewöhnliche Idee und sehr viel harte Arbeit 

Doch „Old Time Road“ zeigt noch etwas Anderes. Es braucht kein Medium mehr, das auswählt, was gute Musik ist und was schlechte. Musik braucht keine Platzierungslisten, die einordnen, welches Lied zu welchem Genre gehört. Der Song steht für die Anarchie der Popkultur und dafür, wie ein 19-Jähriger mit einem Traum es schaffen kann. Wie Lil Nas X mit seinen eigenen bescheidenen Mitteln einen Hype entfacht, der die gesamte Musikindustrie auf den Kopf stellt.

Es ist der amerikanische Traum übersetzt in unser Zeitalter. Ein Aufstieg, ermöglicht durch eine App, eine ungewöhnliche Idee und sehr viel harte Arbeit. „Ich war die ganze Nacht wach und versuchte, meine Musik im Internet zu promoten. Ich hatte fast täglich Kopfschmerzen, wahrscheinlich wegen des Schlafentzugs“, beschreibt Hill sein Leben, bevor er seinen großen Hit schrieb, dem Time-Magazin. „Old Town Road schrieb ich in einer Phase, in der ich mich fühlte, als würde es nicht mehr weitergehen. Ich lebte bei meiner Schwester. Sie hatte es satt, dass ich die ganze Zeit bei ihr war. Daraus entwickelten sich die Lyrics in meinem Chorus. Ich sagte: Ich will alles hinter mir zurücklassen“, so Hill weiter.

Anfang Dezember des vergangenen Jahres veröffentlicht der mittlerweile 20-Jährige seinen Song auf Soundcloud, versucht über seine Twitter-Accounts, das Lied zu promoten. Einen Tag nach der Veröffentlichung bittet er seine Follower: „Twitter, bitte hilf mir Billy Ray Cyrus auf diesen Song zu bekommen.“ Hill lädt ein selbstgebasteltes Musikvideo auf Youtube, ein Zusammenschnitt von Szenen aus dem populären Western-Videospiel „Red Dead Redemption 2“ und veröffentlicht den Song auf iTunes und Spotify. Zunächst eher erfolglos – dann wird die TikTok-Community auf Old Town Road aufmerksam. Fast 70 Millionen Mal wurden Videos mit dem Hashtag #yeehaw auf TikTok angesehen. Die meisten davon folgen einem einfachen Prinzip: Es läuft das Intro des Songs, ein langsamerer Part, der User steht in normalen Klamotten vor der Kamera. Sobald der Beat dropt und Lil Nas X zu rappen beginnt, ändern sich die Klamotten: Plötzlich sind die Leute als Cowboys verkleidet und flippen aus.

Mittlerweile hat Lil Nas X einen Vertrag bei Columbia Records unterschrieben. Die Zeiten, in denen er auf dem Boden seiner Schwester schlafen musste, sind vorbei. Auf Instagram posiert er vor gelben Sportwagen, veröffentlicht einen Screenshot seiner Unterhaltung mit Drake und schickt Selfies aus seinem Hotelzimmer: „Schaut mal, meine Dusche hat ein eigenes Telefon.“ Vor Kurzem bekommt er einen Anruf. Billy Ray Cyrus würde gerne eine zweite Version seines Songs aufnehmen. Der Rapper stimmt sofort zu. Seine Hoffnung, die er Anfang Dezember mit einem Tweet in die Welt geschickt hat, wird wahr. Am 5. April veröffentlichen sie ihren Song, einen Tag später ist er der weltweit meistgespielte auf Apple Music – einen Platz vor dem Original. Lil Nas X ist ganz oben angekommen, hat einen dicken Plattenvertrag und ist, seit dieser Woche, auf Platz eins der Billboard Hot 100 Charts in den USA. Vor Post Malone, vor Ariana Grande, vor Meek Mill und Drake. Mit einem selbstgebastelten Lied. Und Billboard hat angekündigt, die Country-Verbannung noch einmal zu überdenken.

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