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Wie junge Menschen in Leipzig gegen knappen Wohnraum kämpfen

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Über dem Stuhl hängt eine Lederjacke, auf dem Tisch dahinter türmen sich Kalender, alte Zeitungen und zwei sehr alt wirkende Bildschirme – genau so, wie der Bewohner dieses Zimmers seinen Besitz vor etwa 20 Jahren hinterlassen hat, liegt er noch heute da. Aber nicht mehr lange. Denn nach 15 Jahren kompletten Leerstands hat das Mietshaus im Leipziger Stadtteil Connewitz jetzt neue Besitzer*innen. Die sechzehn Menschen – darunter vier Kinder–, die einziehen werden, haben das Haus aus der Gründerzeit gemeinschaftlich gekauft. Leo und Anni sind zwei von ihnen. Die beiden Frauen leben seit fünf Jahren in Leipzig, sie kennen sich aus Freiburg, sind befreundet. Anni ist 25, sie studiert in Halle Geschichte und Kulturwissenschaften. Wie Leo ist sie blond und zierlich. Die 30-jährige Leo wohnt gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter gerade noch in einem anderen Hausprojekt in Connewitz. Dort werden sie aber entmietet, die Bewohner*innen müssen ausziehen. Ihr neues Zuhause entsteht jetzt in der Wolfgang-Heinze-Straße 43, ein paar hundert Meter entfernt vom Connewitzer Kreuz. Die Gruppe nennt ihr Haus liebevoll kurz „Wolle43“.

Aus den Räumen im Haus wollen sie insgesamt vier Etagenwohnungen zu jeweils 100 Quadratmeter machen, dort sollen je vier Menschen zusammen wohnen. Die Räume des Altbaus haben hohe Decken und große Fenster. Im Erdgeschoss des Hauses gibt es zwei Ladenflächen, die vielleicht vermietet werden. Die Gruppe will dort gemeinschaftlich wohnen, sich Aufgaben wie Kinderbetreuung teilen. Die Wohnungen sollen offen sein, aber auch Rückzug bieten, wann immer das nötig ist. Anni sagt schlicht: „Wir wollen auf dem Schirm haben, wie es den Menschen hier geht und was sie machen.“ 

In Annis alter WG wird die Miete um ein Drittel teurer

Die beiden Frauen zeigen beim Rundgang durch das Haus auf vergilbte Poster an den Wänden, auf ein staubiges String-Regal, das übrig geblieben ist, auf eine orange-rot gemusterte 70er-Jahre-Tapete. „Und hier“, sagt Anni und führt in einen Raum im fünften Stock, „hier hängt sogar noch ein handbeschriebener Zettel über der Badewanne“. Das Blatt ist schon ganz gelb und knittrig, doch auch 15 Jahre nach dem Auszug der letzten Bewohnerin des Hauses noch gut lesbar: „Jeden Tag fünf Minuten lüften“, steht da, und daneben: „Nicht alleine in die Wanne.“

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Öl, Putzmittel, Suppenkellen – alles noch da.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Dieser Zettel hängt noch heute an der Wand – er ist mindestens 15 Jahre alt.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Als wäre der ehemalige Bewohner gerade aufgestanden – eine Lederjacke über dem Stuhl, Chaos auf dem Tisch.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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In den Räumen des Hauses steht noch jede Menge rum.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Ob die alten Gardinen wohl bleiben werden?

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Online kosten alte String-Regale mittlerweile viel Geld – in diesem Haus hängen sie noch an der Wand.

Foto: Sophie Aschenbrenner

Der Gruppe geht es nicht nur um ein alternatives und gemeinschaftliches Zusammenleben, es geht auch um ein politisches Zeichen. „Es entsteht gerade so ein absurder Wohnungsmarkt, gegen den man nur ansteuern kann, wenn man laut wird. Es ist ein Menschenrecht, bezahlbaren Wohnungsraum zu haben“, sagt Leo. Zwar kriegen Menschen, die in München, Stuttgart oder Frankfurt wohnen, noch immer leuchtende Augen, wenn sie hören, was eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Leipzig kostet: „650 Euro warm? Altbau? Mit Stuck UND Balkon??“ Tatsache ist aber auch: Die Preise ziehen an. Leipzig boomt, immer mehr Menschen ziehen in die Stadt. Investor*innen und Vermieter*innen haben das längst erkannt. Anni lebt gerade noch in einer Wohngemeinschaft in der Südvorstadt, einem Viertel nahe dem Stadtzentrum. Die Wohnung über ihrer WG sei gerade freigeworden, erzählt sie. Jetzt werde neu vermietet, der Preis um ein Drittel erhöht. „Und natürlich finden sich Menschen, die da einziehen“, sagt sie wütend. In Leipzig wird viel saniert und viel gebaut. In Connewitz, unweit des Hauses von Anni und Leo, hat eine Firma ein Areal gekauft, auf dem schicke Neubauten entstehen sollen. Auf der Website wirbt die Firma mit den „angesagten Kneipen“ in der Umgebung, mit „Lifestyle und Erholung“. Leisten können wird sich das nicht jede*r. Aktivist*innen demonstrieren daher immer wieder gegen die Pläne – bisher erfolglos. 

Das Haus von Anni und Leo ist denkmalgeschützt, was die Sanierung noch zusätzlich erschwert. Unter anderem die Versorgungsstränge wie Wasser- und Stromleitungen müssen komplett erneuert werden. Deswegen werden viele der Arbeiten auch an professionelle Firmen ausgelagert. Alles andere wollen die neuen Besitzer*innen aber selbst in die Hand nehmen. Die meisten von ihnen sind zwar Geisteswissenschaftler*innen, studieren noch und haben keine handwerkliche Ausbildung. Anni sagt aber: „Wir haben alle Bock und Energie.“ Alles soll demokratisch entschieden werden, die Gruppe trifft sich oft im Plenum, hat außerdem verschiedene Arbeitsgruppen gegründet. Das sei zwar manchmal langwierig, aber auch sehr wichtig, sagen Anni und Leo. Noch nicht alle in der Gruppe kennen einander so gut wie Anni und Leo das tun. 

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In vielen Räumen hängen noch Lampen.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Johann ist damit beschäftigt, die alten Dielen freizulegen.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Manche Möbel wollen die Besitzer*innen weiter verwenden.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Zwischen den Möbeln: vor allem auch viel Staub.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Die Fototapete sieht immer noch aus wie frisch angebracht.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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Das Treppenhaus steht unter Denkmalschutz.

Foto: Sophie Aschenbrenner

Während Anni und Leo durchs Haus führen, ist Johann im Obergeschoss damit beschäftigt, die alten Dielen wieder freizulegen. Er ist Industriekletterer und Landschaftsarchitekt, er kennt sich aus mit Renovierungsarbeiten. Gerade türmen sich in fast jedem Raum noch Besitztümer der früheren Mieter*innen. Da steht ein geblümtes Sofa vor vergilbter, halb abgerissener Tapete. In einer ehemaligen Küche stapeln sich Putzmittel, da hängen Suppenkellen über alten Auflaufformen und Eierkartons, die seit wahrscheinlich 15 Jahren nicht vom Fleck bewegt wurden. Warum die früheren Bewohner*innen ihre Sachen nicht mitgenommen haben, wissen die jetzigen Besitzer*innen auch nicht. Jetzt versuchen sie, möglichst viel mit dem zu arbeiten, was da ist. Immer wieder zeigen Anni und Leo auf bestimmte Gegenstände: „Das könnte man noch gut brauchen“, sagen sie, „Den Teppich könnten wir in die Küche legen.“ Im obersten Stockwerk sind die Räume schon ausgeräumt, hier fällt Licht auf alte Dielen, in den Ecken stapelt sich Schutt. Bis alle einziehen können, wird es wahrscheinlich noch bis März 2021 dauern.

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Manche Räume sind schon ausgeräumt.

Foto: Sophie Aschenbrenner
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An den Wänden hängen immer noch alte Plakate.

Foto: Sophie Aschenbrenner

Denn Sanieren ist anstrengend und dauert. Und auch finanziell ist das Projekt erst einmal eine Belastung für die Gruppe. Einen mittleren sechsstelligen Betrag hat das Haus gekostet. Es wurde gemeinsam mit der Stiftung „trias“ gekauft, die sich auf solche Projekte spezialisiert hat: Seit 2002 übernimmt die Stiftung Grundstücke in den eigenen Vermögensstock und damit aus der Spekulation. Das bedeutet: Kein Investor und keine Firma können das Haus mehr kaufen und luxussanieren, niemand kann mehr wegen Eigenbedarf gekündigt werden, die Miete nicht aus Profitgier in die Höhe getrieben. Auch, wenn die jetzigen Eigentümer*innen irgendwann nicht mehr im Haus wohnen, soll das so bleiben. 

Leo glaubt: Der Mensch ist im Kollektiv immer stärker

Die restliche Finanzierung stemmt die Gruppe durch Direktkredite von Familie, Freund*innen und anderen Unterstützer*innen. „Wir werden auf jeden Fall in den kommenden Jahren noch mehr Kredite einwerben müssen. Da sind wir die nächsten Jahre darauf angewiesen. Für die großen Bauvorhaben mussten wir bei der Bank einen Kredit aufnehmen“, erklärt Leo. Niemand in der Gruppe hat viel Geld übrig. Dass sie das Haus dennoch kaufen konnten, bezeichnet Anni als „unfassbares Glück“: „Die ehemalige Eigentümerin ist sehr interessiert daran, wer wir sind und was wir machen wollen. Und sie hat sich bewusst gegen Spekulant*innen ausgesprochen, die mehr gezahlt hätten, als wir es konnten.“ Dass die Gruppe das Haus gefunden hat, war reiner Zufall. Eigentlich war das Nachbarhaus inseriert, doch das war mit knapp 900 000 Euro zu teuer. „Außerdem sollte das an Profis verkauft werden“, sagt Leo. Eine Freundin von ihr entdeckte beim Spazierengehen zufällig, dass auch die Wolle43 leer stand – und zu verkaufen war. Das Ehepaar, das das Haus bis dahin verwaltete, stellte den Kontakt zur Eigentümerin her. Und die mag das Projekt. 

Es geht hier um mehr als um bezahlbaren Wohnraum, es geht auch um ein Wohnmodell abseits des einsamen Single-Haushalts:  „Ich glaube, dass der Mensch im Kollektiv immer stärker ist. In Krisenzeiten einsam zu sein, ist verdammt schwer. Aber gemeinsam kann man da stark rausgehen, egal ob es eine individuelle oder eine kollektive Krise ist“, sagt Leo. Dann verabschieden sich die beiden von Johann und gehen durch die schwere Haustür hinaus in den Leipziger Regen. Post kann man an die Hausgemeinschaft übrigens bereits schicken: Der Briefkasten hängt schon neben der Tür. 

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