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„Die Welt hat Afghanistan allein gelassen“

Die Lage in Afghanistan ist nach dem Machtwechsel vor allem für Frauen sehr gefährlich.
Foto: AFP or licensors

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Fatima Alavi hat fast zehn Jahre lang für Menschen- und Frauenrechtsorganisationen in Afghanistan gearbeitet. Vor sieben Monaten wurde sie von den Taliban bedroht – im Juli verließ die 30-Jährige ihr Heimatland und floh nach Tadschikistan. Sie studierte an der Universität Kabul Sozialwissenschaften, Politik und Internationale Beziehungen und gehört zu den vielen Frauen in Afghanistan, die sich in den vergangenen 20 Jahren immer mehr Rechte und Freiheiten erkämpft haben – und diese jetzt, wo die Taliban an der Macht sind, mehr und mehr zu verlieren drohen. Im Interview mit jetzt erzählt Fatima Alavi wie es war, als Frau in Afghanistan aufzuwachsen und was die Übernahme der Taliban für die afghanische Gesellschaft und vor allem für die afghanischen Frauen bedeutet.

jetzt: Wo bist du gerade?

Fatima Alavi: Ich wohne seit Anfang Juli mit meinem Mann und meinen beiden Kindern in einem Hotelzimmer in Tadschikistan. Die Taliban haben vor sieben Monaten angefangen, mich anzurufen und mich zu bedrohen. Ich solle mit meiner Arbeit aufhören, haben sie gesagt, weil ich als Menschenrechtsaktivistin auch Menschen geholfen habe, die selbst oder deren Familienangehörige den Taliban zum Opfer gefallen sind. Auch mein Mann wurde mehrfach von den Taliban bedroht, weil er Journalist ist. Nachdem die Anrufe begonnen haben, sind wir ständig innerhalb Kabuls umgezogen. Wir haben immer für ein paar Nächte bei Familienangehörigen geschlafen und sind dann weitergezogen, manchmal hier, manchmal dort, damit die Taliban uns nicht finden. Aber vor zwei Monaten war die Angst und Bedrohung zu groß und wir sind mit dem Flugzeug von Kabul nach Duschanbe in Tajikistan geflogen.

Wie war die Situation in Afghanistan, als ihr Kabul verlassen habt?

Es wurden bereits kleinere Städte von den Taliban beherrscht. Aber auch damals schon war der Terror in Kabul groß. Die Taliban haben Journalisten, Aktivisten und Frauenrechtler verfolgt und getötet. Jeden Tag wurden mehrere dieser Menschen umgebracht.

Sind Teile deiner Familie immer noch in Afghanistan?

Meine Eltern und meine jüngere Schwester sind im Moment im Iran. Aber der Rest meiner Verwandtschaft und auch die gesamte Familie meines Mannes ist noch immer in Afghanistan. Sie alle sind jetzt immer Zuhause. Sie kaufen früh morgens ein und bleiben den Rest des Tages nur Zuhause.

Als du noch ein Kind warst, waren die Taliban schon einmal an der Macht. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit?

Meine Eltern sind schon vor meiner Geburt in den Iran geflohen. Erst 2001, mit dem Einmarsch der Amerikaner und nachdem die Taliban gestürzt wurden, sind wir zurück in das Heimatdorf meiner Eltern nach Afghanistan gezogen. Schon damals hatte ich große Angst vor den Taliban. Sie brannten Schulen und Krankenhäuser nieder und begingen Selbstmordanschläge. Als ich elf Jahre alt war, haben die Taliban auch die Mädchenschule, die meine Schwestern und ich besucht haben, abgebrannt. Zu sehen, dass dieser Ort, an dem ich gelernt und mit meinen Freunden gespielt habe, verbrannt ist, war wie ein Albtraum für mich.

„Viele Männer haben gelernt, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie sie selbst“

Wie war die Situation der Frauen in Afghanistan zuletzt – also vor der Übernahme der Taliban?

Die afghanischen Frauen kann man in drei Kategorien einteilen. Zum einen gibt es die Frauen, die in den Dörfern wohnen und die nicht so viele Freiheiten und Rechte haben und die kaum Chancen auf Bildung haben. Zum anderen gibt es die Frauen, die in der Stadt leben. Diese Frauen haben sich weitergebildet, sie sind zur Schule und zur Uni gegangen, haben Sprachen gelernt. Zur dritten Kategorie gehören die Frauen, die immer versucht haben, andere Frauen zu empowern. Das waren meistens gebildete Frauen aus den Städten, die sich, genau wie meine Kolleginnen und ich, als Journalistinnen und Aktivistinnen dafür eingesetzt haben, dass alle Frauen in Afghanistan die gleichen Rechte wie die Männer bekommen. Es gibt und gab sehr viele dieser Frauen in Afghanistan.

Wie hat sich das in den vergangenen Jahren entwickelt?

Vor allem in den Städten und besonders in Kabul hat sich die Situation wirklich sehr verbessert. Dieselben Frauen, die vor einigen Jahren noch nicht allein rausgehen durften, konnten auf einmal zur Schule gehen, studieren und arbeiten. Auch viele Männer haben gelernt, dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie sie selbst, dass Frauen auch arbeiten und an der Gesellschaft teilhaben können. 2005 gab es in jedem Kurs an der Universität mit 100 Studierenden vielleicht zwei oder drei Frauen. In den vergangenen Jahren waren es schon 20, 25, manchmal sogar 30 Frauen pro Klasse. Und wenn die Frauen gebildeter sind, dann wissen sie, welche Rechte sie haben. Sie können dann selbst arbeiten gehen und selbstständig leben. Sie müssen dann nicht mehr heiraten, um finanziell abgesichert zu sein.

Was war deine Rolle in dieser Entwicklung?

Ich habe für afghanische Menschenrechtsorganisationen gearbeitet, die von verschiedenen Ländern und internationalen Organisationen unterstützt wurden. In einigen Projekten habe ich sogar direkt für das Deutsche Auswärtige Amt und Medico International gearbeitet. Zusammen mit meinen Kolleginnen haben wir Ideen gesammelt, wie wir die Zukunft für Frauen in Afghanistan besser machen können. Wir haben Workshops in Dörfern organisiert, um Frauen, die nicht zur Schule gehen konnten, ihre Rechte zu verdeutlichen und sie auf Hilfsangebote aufmerksam zu machen. Der Erfolg dieser Workshops verstärkt sich dann selber, weil die Frauen ihr Wissen an ihre Töchter, Freundinnen und Familienangehörige weitergeben. Neben Workshops haben wir auch Selbsthilfegruppen organisiert, in denen Frauen sich austauschen und über Probleme innerhalb ihrer Familien sprechen konnten und Hilfe erhalten haben. Dadurch konnten sie zum Beispiel, wenn ihnen häusliche Gewalt widerfahren ist, ihre Ehemänner anzeigen.

„Ich glaube nicht, dass die Menschen, die in Afghanistan Widerstand leisten, diesen Kampf gewinnen können“

Was passiert jetzt mit Frauen wie dir, die in einem relativ freien Afghanistan aufgewachsen sind?

Jetzt, wo die Taliban an der Macht sind, ist alles, was die Frauen in Afghanistan, was meine Kolleginnen und ich erreicht und erkämpft haben, zurück auf Null. Die Taliban akzeptieren nicht, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie sie. Sie entscheiden, was Frauen anziehen, was Frauen machen, wo Frauen hingehen. Viele Frauen sind auch nach der Übernahme der Taliban zur Arbeit gegangen, aber die Taliban haben sie nicht arbeiten lassen. Die Frauen müssen sich an die Taliban anpassen und ich hoffe, dass alle, die das nicht tun, Afghanistan verlassen können.

Das heißt, deiner Meinung nach ist es zwecklos, Widerstand gegen die Taliban zu leisten?

Ich glaube nicht, dass die Menschen, die in Afghanistan Widerstand leisten, diesen Kampf gewinnen können. Die Taliban sind jetzt an der Macht und die Menschen in Afghanistan haben ihre Hoffnung verloren. Wenn nach 20 Jahren die Taliban so schnell und so einfach an die Macht kommen, dann gibt es keine Chance. Die Welt hat Afghanistan allein gelassen. Unser eigener Staat hat uns verraten.

Können die Taliban wirklich die Errungenschaften der vergangenen Jahre rückgängig machen?

Die Situation in Afghanistan ist so kompliziert, dass man so etwas nicht wirklich beantworten kann. Ich hoffe, dass sich die Männer in Afghanistan in den letzten 20 Jahren geändert haben. Ich hoffe, dass die Eltern, die Brüder, dass sie alle gelernt haben, dass ihre Töchter und ihre Schwestern die gleichen Rechte wie sie selbst haben und dass sie sie jetzt unterstützen müssen.

Wie blickst du in die Zukunft? Wirst du wieder nach Afghanistan zurückkehren?

Eigentlich wollten wir nur ein oder zwei Monate in Tadschikistan bleiben, bis die Taliban aufhören, mich zu suchen. Wir haben alles zurückgelassen, unser Auto, unser Haus. Jetzt, wo die Taliban an der Macht sind, kann ich nicht mehr in Afghanistan leben. Sie würden meine Familie und mich töten.

Was wünschst du dir?

Dass ich nach Deutschland kommen kann, dass ich dort mit meiner Familie neu anfangen kann. Schon, als ich ein Kind war, war ich ein Flüchtling. Jetzt bin ich wieder ein Flüchtling, aber ich weiß noch nicht, wo mein neues Zuhause sein wird.

Und für die Zukunft von Afghanistan?

Ich wünsche mir, dass die Welt Afghanistan nicht vergisst. Die internationale Gemeinschaft und vor allem westliche Länder wie Deutschland und die USA, die viel Macht haben, müssen den Taliban sagen und zeigen, dass sie auf die Menschen in Afghanistan achten. Sobald die Welt nicht mehr hinschaut, werden die Taliban machen, was sie wollen.

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