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Braucht die EU neue Grundrechte für Klimaschutz und Digitales?

54 Artikel hat die Grundrechte-Charta der EU. Ferdinand von Schirach und seine Mitstreiter*innen hätten gerne noch ein paar mehr.
Foto: respiro / Adobe Stock

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Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. Klingt gut – stimmt aber nicht. Zumindest ist das so nirgends festgeschrieben. Ein solches Recht findet sich weder in der deutschen Verfassung noch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder den Grundrechten der Europäischen Union.

Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach will das ändern. Ende März hat er das knapp 30-seitige Büchlein „Jeder Mensch“ herausgebracht, zeitgleich eine Online-Unterschriftenaktion gestartet und gefordert, der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ sechs Grundrechte hinzuzufügen: auf ein Leben in einer gesunden Umwelt, auf digitale Selbstbestimmung, transparente Algorithmen, wahrheitsgemäße Äußerungen von Amtsträger*innen, Waren, die unter Wahrung der Menschenrechte hergestellt wurden, und darauf, alle Rechte der Charta vor Europäischen Gerichten einzuklagen.

Von Schirachs Aktion hatte schnell viele Unterstützer*innen, zum Beispiel Jan Böhmermann und Sascha Lobo, die ehemalige österreichische Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley und bekannte Verfassungsrechtler*innen. Bis heute haben mehr als 190 000 Menschen den Appell unterschrieben. Natürlich gab es auch Kritik: Die Forderungen seien naiv, pathetisch oder populistisch. Der Kommentar des Kolumnisten und früheren Bundesrichter Thomas Fischer auf Spiegel Online trug den Titel: „,Jeder Mensch’ braucht kein Mensch“ und eine bekannte Verfassungsrechtlerin sagte eine Gesprächsanfrage von jetzt mit der Begründung ab, sie finde die Aktion nicht interessant genug. 

Ganz unabhängig vom Medienrummel um von Schirachs Initiative ist eines aber durchaus interessant: die festgeschriebenen Grundrechte der EU an sich. Diese Grundrechte-Charta gibt es bereits seit mehr als 20 Jahren, trotzdem kennt sie kaum jemand. Bei einer Eurobarometer-Umfrage im Jahr 2019 gab mehr als die Hälfte der Befragten an, noch nie von ihr gehört zu haben. Es ist also an der Zeit, grundsätzlich zu fragen: Was sind die europäischen Grundrechte überhaupt? Wofür brauchen wir sie, obwohl jedes EU-Mitgliedsland eine eigene Verfassung hat und außerdem alle EU-Länder die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben? Was müsste passieren, damit sich die Charta ändert? Und sind Änderungen und Aktualisierungen der Grundrechte möglich – vielleicht sogar nötig?

1999 beschlossen die damals 15 Mitgliedstaaten der EU, einen Grundrechte-Katalog zu erarbeiten. Damit wollten sie für die Bürger*innen sichtbar machen, dass Menschenrechte eines der Gründungsprinzipien der EU sind. Ein Jahr lang kam immer wieder ein Konvent zusammen, bestehend aus zwei Parlamentarier*innen jedes Mitgliedstaats, nationalen Regierungsvertreter*innen und Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Auch die Zivilgesellschaft wurde einbezogen, mehr als 70 NGOs brachten ihre Ideen ein. Am Ende umfasste die EU-Grundrechtecharta 15 Seiten und 54 Artikel, von der Menschenwürde über Religions- und Versammlungsfreiheit, Eigentums- und Asylrecht bis hin zu Arbeitnehmer-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz. Nachdem der Katalog vorgestellt worden war, blieb er fast zehn Jahre lang ein rein politisches Instrument, spielte in der Rechtsprechung also kaum eine Rolle. Erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde die Charta rechtsverbindlich. 

2020 fällte der Europäische Gerichtshof mehr als 340 Urteile auf Basis der Grundrechte-Charta

Die rechtliche Anwendung ist allerdings ziemlich kompliziert. „Man muss zwischen der Anwendung auf EU- und auf nationaler Ebene unterscheiden“, sagt Gabriel Toggenburg von der EU-Agentur für Grundrechte. Auf EU-Ebene kommen die Grundrechte oft zum Einsatz, weil jede EU-Gesetzgebung darauf geprüft wird, ob sie mit ihnen konform ist. 2020 fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) mehr als 340 Urteile auf Basis der Charta. Das bekannteste Urteil ist das zur Vorratsdatenspeicherung: Die EU-Richtlinie hätte Telekommunikationsanbieter verpflichtet, auch anlasslos Nutzerdaten zu speichern. Der EuGH erklärte sie für unzulässig – weil sie nicht mit den Grundrechten vereinbar sei.

Auf nationaler Ebene, also in den einzelnen Mitgliedsstaaten, spielt die Charta seltener eine Rolle. Das liegt vor allem daran, dass sie nur verbindlich ist, wenn EU-Recht betroffen ist, anders als etwa die UN-Menschenrechte oder die Europäische Menschenrechtskonvention, die immer gelten. Ein Beispiel: Wenn man gegen Corona-Maßnahmen in Deutschland klagen will, kann man sich dafür nicht auf EU-Grundrechte berufen. Wenn es um eine Klage gegen ein Verfahren im europäischen Asylsystem geht, schon. Nationale Gerichte müssen von Fall zu Fall entscheiden, wann die Charta sinnvoll genutzt werden kann. Doch oft beeinflusst sie nationales Recht auch jenseits der klassischen Gebiete der EU-Politik wie Binnenmarkt, Landwirtschaft oder Handel. „Der Einfluss der Grundrechte-Charta geht über ihre juristischen Grenzen hinaus“, sagt Toggenburg. 

Als Beispiel erzählt er die Geschichte eines Jungen aus Kroatien, der in einem Supermarkt wegen eines technischen Defekts die Alarmanlage auslöste. Er wurde vom Sicherheitsdienst und von der Polizei durchsucht und musste sich sogar ausziehen. Der Vater klagte gegen dieses Vorgehen. Das Gericht urteilte gegen den Jungen – ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte habe nicht stattgefunden, da man als Zwölfjähriger noch keine fertige Persönlichkeit entwickelt habe. Der Fall kam vor das kroatische Verfassungsgericht, das schließlich zu Gunsten des Jungen urteilte und sich dabei auf das Prinzip  der Menschenwürde in Kapitel 1 der EU-Charta bezog: Kroatien sei Mitglied der EU, also müsse dieses Recht auch hier als Verfassungsrecht geschützt werden. Von Richter*innen und Verwaltungsbeamt*innen höre er aber dennoch häufig, dass sie die Charta ungern anwendeten, weil es so schwierig sei, die Grenzen ihres Anwendungsbereichs klar zu ziehen, sagt Toggenburg. 

Von Schirachs Manifest „Jeder Mensch“ bezeichnet Toggenburg als „großartige Initiative“. „Eine Figur, der es gelingt, juristische  Grundfragen unter die Menschen zu bringen, ist genau das, was wir heutzutage brauchen. Denn wir haben es mit einem Vertrauensverlust in das System zu tun.“ Ein wenig Kritik hat er aber doch: Die Aktion könnte allzu hohe Erwartungen schüren. „Wenn man den Eindruck erweckt, dass die Initiative nur dann erfolgreich ist, wenn diese sechs Vorschläge in die Charta aufgenommen werden, läuft man Gefahr, die Menschen zu enttäuschen und eine Grundskepsis zu bestärken.“ Besser wäre es aus seiner Sicht gewesen, transparent zu machen, dass es vor allem darum gehe, eine Diskussion anzuregen, die dazu führen könnte, dass sich etwa in den Bereichen Umwelt oder Digitales politisch mehr bewege.

Sechs neue EU-Grundrechte wären kein Allheilmittel für die Beseitigung politischer Missstände

Toggenburg gibt der Aktion noch einen weiteren kleinen Minuspunkt, da Menschenrechte „funktional überschätzt“ würden: „Sie haben nicht die Funktion, Politik zu machen, sondern stellen einen Gartenzaun auf, innerhalb dessen die politischen Akteure Fußball spielen dürfen.“ Anders ausgedrückt: Sechs neue EU-Grundrechte wären kein Allheilmittel für die Beseitigung politischer Missstände. Denn da muss die Legislative, also die Gesetzgebung, gefordert werden. An vielen der bei „Jeder Mensch“ genannten Bereiche wird derzeit auch schon gearbeitet. Beispiel Umwelt: Kürzlich hat sich die EU auf eine Verschärfung des Klimaziels für 2030 geeinigt. Das Europaparlament und Umweltverbände kritisieren die Einigung zwar, weil die Treibhausgase aus ihrer Sicht noch stärker reduziert werden müssen, aber dass das Thema außer Acht gelassen würden, kann niemand mehr behaupten.

Zudem gibt es zu den meisten Vorschlägen schon einen entsprechenden Artikel in der Grundrechte-Charta. Um beim Umwelt-Beispiel zu bleiben: „Artikel 37: Umweltschutz. Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.“ Natürlich geht das nicht so weit wie ein Recht auf eine gesunde Umwelt. „Aber in Zukunft könnte dieser Artikel so weit interpretiert werden. Ein Grundrechtskatalog ist ja ein lebendes Dokument“, sagt Toggenburg.

Paulina Starski, Professorin für Öffentliches Recht und Global Governance an der Universität Graz, sieht das ähnlich. Erst die Rechtsprechung fülle Grundrechte mit Substanz. Auch hierzu gibt es ein aktuelles Klima-Beispiel, diesmal aus Deutschland: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, dass die Klimaschutzziele der Bundesregierung unzureichend sind – weil sie Grundrechte der Kläger*innen und zukünftiger Generationen verletzten. Unter anderem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das im deutschen Grundgesetz festgeschrieben ist. Durch wiederholte Rechtsprechung können so sogar neue Grundrechte entstehen: Das „allgemeine Persönlichkeitsrecht“ in Deutschland wurde durch Urteile des BVerfG aus dem Recht auf Menschenwürde und der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitet und ist heute in der Rechtsprechung ein eigenständiges Grundrecht – obwohl es nicht im Grundgesetz steht. Eine solche Entwicklung wäre auch für die EU-Grundrechte denkbar.

Trotzdem könne es interessant sein über die konkreten Forderungen von Schirachs nachzudenken, sagt Starski: „Es wäre eine erhebliche Aufwertung und würde den politischen Diskurs extrem verändern, wenn Sie sagen könnten: ,Das Recht auf gesunde Umwelt ist ein eigenständiges Grundrecht’.“ Als Beispiel nennt sie das Menschenrecht auf Wasser, das 2010 von der UN-Vollversammlung anerkannt wurde und durch das Umweltschützer*innen heute zielgenauer argumentieren und klagen können. 

Einzelpersonen können nicht einfach mit einer Grundrechtsklage vor den EuGH ziehen

Paulina Starski und Gabriel Toggenburg sind sich auch einig darüber, welchen der Schirach-Vorschläge sie am problematischsten finden: Artikel 4, „jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen“. Das soll ein Vorstoß gegen Fake News und Verschwörungstheorien sein – aber beim Begriff „Wahrheit“ sind Jurist*innen immer sehr vorsichtig, weil er so schwierig zu definieren ist. 

Beide Expert*innen finden außerdem von Schirachs Artikel 6 am interessantesten: Das Recht, dass jede*r wegen systematischer Verletzungen der Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben kann. Denn eine Möglichkeit wie die Verfassungsbeschwerde in Deutschland, durch die die Bundesregierung nun zum Beispiel zu Nachbesserungen im Klimaschutz verpflichtet wurde, gibt es auf EU-Ebene nicht. Einzelpersonen können nicht einfach mit einer Grundrechtsklage vor den EuGH ziehen, weil er vor allem auf Klagen seitens der EU-Kommission baut – das wurde in den EU-Verträgen so festgehalten. Und auch auf nationaler Ebene ist es schwierig, sich wegen einer Verletzung der EU-Charter an ein Verfassungsgericht zu wenden. Der vorgeschlagene Artikel 6 würde Klagen von Einzelpersonen zumindest vereinfachen und wirksamer machen. Starski weist aber auch darauf hin, dass er gar nicht notwendig wäre, wenn die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten würde, wozu sie sich im Vertrag von Lissabon verpflichtet hat. Denn dann könnte man, nach Ausschöpfung aller Rechtsbehelfe, vor dem Europäischen Gerichtshof  für Menschenrechte gegen EU-Rechtsakte, also etwa EU-Verordnungen und -Richtlinien, vorgehen. 

Bleibt noch eine Frage: Ginge das überhaupt, was Ferdinand von Schirach da fordert? Kann man die Charta um neue Grundrechte ergänzen? Und wenn ja, wie? „Es ist gar nicht so einfach, diese Frage zu beantworten“, sagt Toggenburg. Denn in den EU-Verträgen wurde dazu nichts festgehalten. „Man müsste wohl wieder einen Konvent einberufen, sich auf einen neuen Text einigen, ihn national ratifizieren lassen. Das wäre ein sehr umständliches Verfahren, das noch dazu die Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten erfordern würde.“ Und es würde auch ein Risiko mit sich bringen: „Es gibt heute einige Mitgliedstaaten, die versucht wären, den Einfluss der EU in Grundrechtsfragen zurückzufahren statt auszubauen. Es ist also gar nicht garantiert, dass dieser Prozess zu einer Verbesserung des Rechtsstatus’ führen würde.“

Denn bei aller Meta-Debatte um die Grundrechte landet man am Ende wieder in der Realität, in der die EU viele Probleme hat: In einigen Mitgliedstaaten, etwa in Polen und Ungarn, höhlen die Regierungen den Rechtsstaat aus. An den Außengrenzen sterben Menschen, weil es seit Jahren keine Lösung für ein neues europäisches Asylsystem gibt. Und auch die Klimakatastrophe stellt die Union vor eine riesige Herausforderung. Die EU braucht also Reformen, neue Ideen und Gesetze, mehr Schwung und Zusammenhalt und lebendige Debatten. Neue Grundrechte braucht sie nicht unbedingt. Aber sie zu fordern, gibt all den anderen Notwendigkeiten vielleicht ein bisschen Auftrieb.

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