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„Es nervt, dass viele Leute einen gleich für einen Faschisten halten“

Foto: privat; Bearbeitung: jetzt

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Großbritannien hat gewählt. Mit klarem Ergebnis: Sieg für Boris Johnson. Sieg für den Brexit – eine absolute Mehrheit der Sitze im Parlament für die Conservative Party. Johnsons Plan, Ende Januar 2020 aus der EU auszutreten, steht nichts mehr im Wege. Was bedeutet dieses Ergebnis für die junge Generation von Brit*innen? Wir haben nachgefragt und mit fünf Menschen aus UK gesprochen. 

„Wegen des Brexits habe ich mich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden“ 

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Foto: privat

Jasper, 29, arbeitet beim Europäischen Patentamt und hat für die Brighton and Hove Green Party gestimmt

„Ich habe die Brighton and Hove Green Party gewählt. Mit den Wahlergebnissen habe ich zwar gerechnet, bin aber dennoch enttäuscht. Es wird also wirklich einen Brexit geben. Niemand weiß genau, was passiert, wenn wir aus der EU austreten. Ich lebe seit ein paar Jahren in Deutschland – wegen des Brexit habe ich mich auch für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden. Ich wollte sichergehen, dass ich auch in Zukunft in Deutschland leben und arbeiten kann. Jetzt melden sich fortlaufend Leute bei mir, die mich fragen, wie sie in Deutschland eingebürgert werden können. Sogar Briten, mit denen ich jahrelang nicht gesprochen habe. Aber es ging nicht nur um den Brexit bei dieser Wahl: Der Sozialstaat hat ziemlich unter den Konservativen gelitten. Wenn ich jetzt in Großbritannien bin, sehe ich mehr Obdachlose auf den Straßen und lange Schlangen in Krankenhäusern. Das sind Ergebnisse einer schlechten Sparpolitik. Ich gebe auch dem britischen Wahlsystem die Schuld an dem Ergebnis von Freitag: 40 Prozent der Stimmen für die Konservativen führt zu 50 Prozent der Sitze im Parlament. Und das zu 100 Prozent Macht. Das ist unfair und es repräsentiert nicht unser gespaltenes Land: Pro-Brexiter und Anti-Brexiter, Pro Schottlands Unabhängigkeit und Anti Schottlands Unabhängigkeit, jung und alt.“

„Es nervt, dass viele Leute einen gleich für einen Faschisten und Rassisten halten“

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Foto: privat

CJ, 26, arbeitet als Digital Project Specialist

„Ich habe für die Conservative Party gestimmt, vor allem aus ökonomischen Gründen. Sie sind die beste Partei für Unternehmen. Labour hatte auch ein sehr gutes Programm, aber ich war nicht überzeugt davon, wie sie es finanzieren wollen. Dabei hing die Wahl natürlich vor allem vom Brexit ab. Ich habe schon vor drei Jahren für den Austritt aus der EU gestimmt und bin auch immer noch dafür, auch wenn ich gerade in München lebe und arbeite – und eventuell Nachteile davon haben werde. Es nervt, dass viele Leute einen gleich für einen Faschisten und Rassisten halten, nur weil man für ‚Leave‘ gestimmt hat. Bestimmt waren auch viele Leute aus Gründen dafür, die ich anders sehe, etwa wenn es um Migration geht. Aber der Brexit bringt wirtschaftliche Vorteile: Im Gegensatz zu etwa Deutschland, das von der Automobilindustrie abhängt, beruht die britische Ökonomie stark auf dem Dienstleistungssektor – und der profitiert offensichtlich nicht vom Freihandelsabkommen. Aber es wäre für mich in Ordnung, ein weiteres Referendum abzuhalten. Menschen verändern ihre Meinung über die Zeit – aber zuerst muss das erste umgesetzt werden. Ich glaube, so sehen das viele Leute. Das ist Demokratie.“

„Wir haben einen globalen Klima-Notstand und der Großteil von Großbritannien redet nur über den Brexit”

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Foto: privat

Steff, 26, arbeitet als Projektmanagerin und hat die Labour Party gewählt

„Ich habe die Wahlberichterstattung gestern Abend zuhause mit meiner Mutter angeschaut, aber die Ergebnisse erst heute gesehen. Ich war schon schockiert, dass es ein so deutlicher Sieg für die Conservative Party ist. Eigentlich haben alle Menschen, die ich kenne, wie ich für die Labour Party gestimmt. Und das zeigt mal wieder, wie falsch der Eindruck sein kann, den man sich auf Grundlage der Menschen in der eigenen Bubble macht. Eigentlich glaube ich nicht, dass Boris Johnson als Spitzenkandidat beliebter war als andere Kandidaten. Aber seine Kampagne hat besser funktioniert als die von Corbyn. Die Konservativen haben eben ein klareres Brexit-Programm. Inzwischen wollen doch die Meisten einfach nur, dass wir es endlich hinter uns bringen. Auch ich – und ich habe 2016 für ‚Remain‘ gestimmt. Die Leute haben das Votum von damals  akzeptiert, es muss weitergehen. Wir haben einen globalen Klima-Notstand und der Großteil von Großbritannien redet nur über den Brexit. Trotzdem, das Wahlergebnis war heftig für mich: Mein Wahlkreis, Greater Manchester, der seit über hundert Jahren von der Labour regiert wird, ist von den Konservativen übernommen worden. Das hat mich vielleicht mehr mitgenommen als das Gesamtergebnis.“

Ich denke, Boris Johnson wird sich politisch immer mehr in die Mitte bewegen

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Foto: privat

Ainan, 21, studiert Ökonomie

„Ich wähle eigentlich schon immer konservativ, dieses mal auch. Aber so einen deutlichen Sieg hätte ich niemals für möglich gehalten. Ich habe vor zwei Jahren für ‚Remain‘ gestimmt, aber ich finde, wir müssen jetzt das Referendum respektieren und das, was in dieser demokratischen Abstimmung herausgekommen ist, akzeptieren. Ein No-Deal-Brexit wäre eine Katastrophe gewesen. Aber Boris Johnson scheint nun einen guten Deal zu haben und hoffentlich bekommen wir so das Beste aus beiden Welten: eine enge Zusammenarbeit mit der EU, aber ein unabhängigeres Großbritannien. Ich denke, Boris Johnson wird sich politisch immer mehr in die Mitte bewegen. Jetzt, wo er so eine große Mehrheit hat, wird er die rechten Stimmen in seinem Umfeld loswerden und ein Parlament aufbauen, das alle konservativen Stimmen im Land vereint. Die Vergleiche zwischen ihm und Donald Trump finde ich sehr unpassend. Boris hat schon als Bürgermeister von London gezeigt, dass er ein guter Politiker ist. Klar ist er manchmal etwas aggressiver, vergreift sich im Ton, aber er kann auch sehr charmant sein und ist auf jeden Fall nicht so beratungsresistent wie Trump. Labour muss sich wirklich komplett neu aufstellen, um wieder ihre Stammwählerschaft zu erreichen. Wenn die Tories nun wirklich wieder mehr in die politische Mitte drängen, wird es schwer für diese Partei. Es gibt für mich nur ein Szenario, in dem ich jemals Labour wählen werde: wenn die Conservatives politisch nach rechts abdriften und sich Labour gleichzeitig in Richtung Mitte bewegt.“

 

„Das Boris-Johnson-Großbritannien ist nicht das Großbritannien, in dem ich leben möchte“

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Foto: privat

James, 20, studiert Internationale Beziehungen und hat für Labour gestimmt

„Das Ergebnis habe ich wirklich nicht erwartet. Keine Befragung hat das vorhergesehen. In Großbritannien haben viele wegen der Politik der Konservativen ein hartes Leben. Die Labour Party hätte diese Probleme wieder beheben können. Für mich war aber bei der Wahl nicht nur der Brexit wichtig; sondern auch die Gesundheits- und Sozialpolitik. Die Tories haben in den vergangenen Jahren massiv die Sozialabgaben gekürzt. Außerdem fehlt dem staatlichen Gesundheitssystem Geld. Mein Bruder hat Trisomie 21. Er ist mehr als jeder andere in meiner Familie auf öffentliche Hilfe angewiesen – nicht nur im Gesundheitssystem, auch bei der Bildung. Die Konservativen wollen jetzt auch Gelder für Schulen kürzen. Deswegen muss vielleicht der ‚Learning support classroom‘ abgeschafft werden, in dem mein Bruder aktuell unterrichtet wird. Die Ergebnisse lassen mich ernsthaft darüber nachdenken, ob ich weiterhin in UK bleiben möchte. Das Boris-Johnson-Großbritannien ist nicht das Großbritannien, in dem ich leben möchte. Vielleicht gehe ich zurück nach Neuseeland, wo ich mal gelebt habe. Aber jetzt abzuhauen fühlt sich auch falsch an, ein Teil von mir möchte bleiben und weiterkämpfen. Gerade mache ich Erasmus in Friedrichshafen. Eine Universität, an der ich gerne mein Auslandssemester gemacht hätte, ist wegen des Brexits aber bereits jetzt aus dem Programm ausgeschieden. Der Brexit beeinflusst also das Leben von Briten bereits jetzt negativ. Nächstes Jahr können wir vielleicht gar kein Erasmus-Semester mehr machen. Aber wer weiß das schon? Es ist alles so ungewiss.“

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