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„Die Geflüchteten sollen zu Geistern werden“

Der Winter ist hart auf Lesbos – viele fragen sich, wie das neue Lager Kara Tepe Wind und Regen standhalten soll.
Foto Anthi Pazianou / AFP

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Als im September das Geflüchteten-Lager Moria auf Lesbos brannte, war das Entsetzen groß. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach: „Wir werden anständige Bedingungen für ankommende Migranten und Flüchtlinge schaffen, aber auch die Gemeinden auf den griechischen Inseln unterstützen.“ Zehntausende Menschen waren obdachlos. Schnell wurde ein neues Übergangslager gebaut: In Kara Tepe auf Lesbos leben heute etwa 7300 Menschen, davon ein gutes Drittel Kinder. Die Bedingungen sind schlecht: Die Zelte haben keinen Boden, es gibt kaum Strom und fließend Wasser, und jetzt kommt auch noch der Winter. Vergangenen Samstag wurde zudem bekannt, dass ein dreijähriges Mädchen in dem Lager mutmaßlich vergewaltigt wurde. Zuvor hatte die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ eine große Impfaktion gestartet, nachdem Babys in dem Lager in nassen Zelten von Ratten gebissen worden waren

Die Journalistin Franziska Grillmeier, 1991 geboren, lebt seit 2018 auf Lesbos, um über die Situation der Geflüchteten zu berichten. Manche der Camp-Bewohner*innen kennt sie schon seit Jahren. Sie ist eine der wenigen Journalist*innen, die schon so lange vor Ort sind. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie sich das Wetter auf die Psyche der Geflüchteten auswirkt, ob das Lager den Winter überstehen kann, was stattdessen notwendig wäre – und wie es um die Pressefreiheit auf Lesbos steht.

interview franziska grillmaier

Franziska Grillmeier lebt seit 2018 auf Lesbos und berichtet über die Situation der Geflüchteten.

Foto: privat

jetzt: Wo bist du gerade? 

Franziska Grillmeier: In meiner Wohnung in der Hafenstadt Mytilini. Sie liegt fünf Kilometer entfernt von dem neuen, temporären Lager Kara Tepe. Gerade höre ich die Weihnachtslieder aus den den Lautsprechern an der Hafenpromenade schallen und gleichzeitig weiß ich, dass die Menschen im Lager gerade aufwachen, den ersten Tee aufsetzen und versuchen, sich zu trocknen nach einer sehr kalten und nassen Nacht.

Wie ist das Wetter?

Es ist ziemlich frisch, um die sieben Grad in der Früh, und die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch. Dazu hat es in den vergangenen Tagen durchgängig geregnet. Wie jedes Jahr im Winter über den Ägäischen Inseln. 

Denkst du, das Lager wird dem Winter standhalten können? Auf Fotos sieht man einfache Zelte, die dem Wetter schutzlos ausgeliefert sind.

Es ist zermürbend zu sehen, dass dieses Lager tatsächlich über den Winter existieren soll und die Menschen bis heute nicht auf sichere Unterkünfte auf dem Festland oder dem Rest der Insel transferiert wurden. Als das Lager auf einen Militärübungsplatz auf einem Sandboden gebaut wurde, haben die Inselbewohner die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen und sich gefragt, wie das im Winter funktionieren soll. Einige Zelte stehen nur wenige Zentimeter vom Meer entfernt. Es weht ein kalter Nordwind. Als es vor einigen Wochen begann zu regnen, versuchten die Menschen, mit kleinen Schwämmchen ihre Zelte trocken zu bekommen – natürlich erfolglos. Sie sind teilweise drei Tage lang nicht zur Essensausgabe gekommen, weil es einfach so matschig und nass war und es zum Beispiel für Menschen mit Behinderung unmöglich war, den Weg zur Essensausgabe oder zu den Toiletten zurückzulegen.

Was sagen Verantwortliche dazu?

Wenn man mit Verantwortlichen spricht, dann sagen sie: „Wir schieben Europaletten unter die Zelte und stellen Sandsäcke auf, es ist eine temporäre Lösung.“ Doch allen war klar, dass der Winter kommen würde. Wieso sind die Menschen nicht in Containern untergebracht? Wieso haben wir aus den letzten vier Jahren nichts gelernt über den Winter auf dieser Insel? Die Leiterin des UN-Flüchtlingshilfswerks, Astrid Castelein, die mitunter dafür verantwortlich ist, das Lager winterfest zu machen, sagte mir, es werde noch bis Ende Januar dauern, bis zumindest ein Teil des Lagers fließendes Wasser hat.

Sind Kinder besonders betroffen?

Viele Kinder und Jugendliche sind schwer traumatisiert. Eltern berichten, dass sie nachts nicht mehr schlafen können, weil die Kinder schreiend aufwachen, bettnässen oder auch schlafwandelnd das Zelt verlassen, was sehr gefährlich sein kann. Erst gestern schrieb mir der Vater eines Zehnjährigen, dass sich sein Sohn die Hand gebrochen habe, da er wieder in der Nacht aus dem Zelt gelaufen sei und über einen Felsen am Meer stolperte. Vier Monate nach dem Brand in Moria bricht für viele Kinder und Jugendliche das Erlebte der vergangenen Monate im Schlaf an die Oberfläche. Kinder haben zudem nicht die gleichen Ventile wie Erwachsene, um Erlebtes oder Traumata auszudrücken, sagen Ärzte. Sie haben keinerlei Alltagsstruktur mehr und halten dadurch auch ihre Eltern auf Trab. Das ist ein Teufelskreis: Eltern verlieren die Hoffnung, und dadurch bricht auch den Kindern das Gerüst weg. Mehr als 65 Prozent der Menschen im Lager sind Familien.

„Ärzte ohne Grenzen“ berichtet von Kindern, die in den nassen Zelten „von Ratten gebissen werden“, in der Folge prangerte der deutsche Entwicklungsminister Müller die Zustände in Kara Tepe an. War das nicht eine Katastrophe mit Ansage?

Ja, man darf nicht vergessen, dass diese Zustände schon seit vier Jahren in den Lagern aufrecht erhalten werden, obwohl man genug Geld oder auch Personal hätte, um die Situation zu verändern. Es ist kein politisches Versagen, das wir hier sehen, es ist eine bewusste politische Entscheidung, Abschreckungsmechanismen gegenüber fliehenden Menschen an den Europäischen Außengrenzen aufrecht zu erhalten.

Was löst diese Situation bei den Eltern aus?

Die Eltern erleben ein Ohnmachtsgefühl, sie schämen sich, wissen nicht, wie es weitergehen soll. Viele sind bitter verzweifelt. Einige haben auf der Flucht viel Gewalt erlebt, aber sie konnten ihren Kindern sagen, dass es weitergeht. Jetzt geht es nicht mehr weiter. Zudem bekommen sie viele Nachrichten von Verwandten oder Freunden auf dem griechischen Festland, die auch mit anerkanntem Fluchtstatus auf der Straße schlafen müssen. Sie wissen: Wenn sie es aus dem Lager schaffen, können sie ihre Familien auch nicht unbedingt in Sicherheit bringen.

„Die Menschen werden in den Lagern jeden Tag neu traumatisiert“

Gibt es therapeutische Hilfe?

Die gibt es nur für sehr wenige Menschen. In der Stadtklinik von „Ärzte ohne Grenzen“, die auf die psychische Betreuung von Überlebenden von Folter und sexueller Gewalt sowie Menschen mit schweren psychischen Störungen spezialisiert ist, stehen schon seit Juli über 50 Patienten auf der Warteliste. In der Kinderklinik, die noch immer gegenüber des abgebrannten Lagergeländes von Moria in Betrieb ist, stehen 100 Kinder und Jugendliche auf der Liste. Die Organisation „Medical Volunteers International“ betreibt ein therapeutisches Kinderprojekt. Doch auch da kommen nur 32 Kinder einmal pro Woche zum Spielen. Die Menschen werden in den Lagern jeden Tag neu traumatisiert. Und die Folgen sind unvorhersehbar. Eine Ärztin sagte mir schon vor dem Brand im Sommer, dass sich die Arbeit hier anfühle, als würde man ein Brandopfer verarzten, das noch im Feuer steht. Eigentlich müsste das Lager schon vor vielen Jahren evakuiert worden sein.

Inwiefern unterscheidet sich Kara Tepe von dem Lager in Moria?

Viele Campbewohnerinnen und -bewohner beschreiben die Zustände als schlimmer als in Moria. Das liegt vor allem daran, dass eine neue Art der Hilflosigkeit herrscht. Das neue Lager ist ein sehr kalter und steriler Ort, man hat dort keine Schulen, keine Möglichkeit der Ablenkung. In Moria gab es zumindest etwas Infrastruktur, zum Beispiel Gemüsestände oder mal einen Zigarettenstand. Das wird in Kara Tepe alles im Ansatz unterbunden. Außerdem ist Kara Tepe ein hochmilitarisierter Ort. Rund um die Uhr sind 300 Polizisten im Einsatz, man sieht ständig Polizeiautos mit Blaulicht zwischen den Zelten durchfahren. Viele berichten, dass sie die Polizei als bestrafende Kraft sehen, nicht als beschützende. Wenn man sich das Lager aus der Nähe anschaut, sieht man zum Beispiel, dass die Leute lange keine Matratzen hatten, nur ein Mal pro Woche duschen können oder durchnässt aufwachen. Das Lager ist eine einzige Baustelle. Der Lärm ist für viele eine große Belastung. Es gibt keine Türen, die man schließen kann, um einmal für sich zu sein. Seit Monaten. Zum Teil seit Jahren.

Wie halten sich die Menschen warm?

Das ist gerade kaum möglich. Denn es ist alles nass und ziemlich windig, also ist es auch schwierig, Feuer zu machen, was nur in Ausnahmefällen genehmigt wird. Zudem ist es für die Menschen kaum möglich, an Feuerholz zu kommen. Aufgrund der Corona-Ausgangsbeschränkungen dürfen sie nur ein Mal pro Woche raus aus dem Lager. Es darf nicht sein, dass nach fünf Wintern, in denen Menschen in improvisierten Lagern bei Null Grad draußen campen müssen, die nahezu gleichen Zustände in einem neuen Lager herrschen, für das die EU sehr viel Geld ausgegeben hat. Wir befinden uns in einem normalisierten Ausnahmezustand – der aufrecht erhalten wird.

Was erfährst du von den Menschen, mit denen du schon lange in Kontakt bist – welche Ängste und Hoffnungen haben sie?

Ich habe selten eine solche Hoffnungslosigkeit gesehen wie jetzt. Auch medizinische Organisationen berichten, dass es einen psychischen Ausnahmezustand gibt, den sie so noch nie gesehen haben, auch nicht in Moria. Die Menschen waren vor dem Brand 170 Tage in der Ausgangssperre, viele konnten ihre Familienmitglieder nicht mehr zum Arzt bringen, immer wieder kam es zu gewalttätigen Übergriffen im Lager, die Menschen haben kaum Ansprechpartner und müssen immer wieder erneut fliehen. Letzte Woche schrieb mir ein Vater auf die Frage, wie es seiner Familie geht: „Die Luft unter meinem Zelt ist kalt, wir haben keinen Strom, keine Heizung, kein Badezimmer. Meine vier Kinder sind seit zwei Jahren nicht mehr in der Schule gewesen, sie können nachts nicht mehr schlafen und zweifeln an jedem Tag. Sie finden keine Zuflucht mehr in meinen Worten. Ich musste fliehen, und Europa gab mir die Antwort, nicht eingeladen zu sein.“

Wie ist die Situation das Coronavirus betreffend?

Bevor sie ins neue Lager gingen, wurden alle Menschen getestet. 340 positiv getestete Menschen kamen in eine Quarantäne-Station. Die aber macht den Leuten Angst – sie ist von Stacheldraht umgeben, die Geflüchteten fühlen sich kriminalisiert. Aus diesem Grund haben viele Angst, sich testen zu lassen, wenn sie wegen etwas anderem ärztliche Hilfe brauchen.

„Diese Lager sind unglaublich teuer und eine grobe Fehlentscheidung“

Die EU möchte bis September 2021 auf Lesbos ein permanentes Lager bauen, in dem die Geflüchteten in Containern untergebracht sind. Wie würdest du den Ort beschreiben, an dem es stehen soll?

Der Ort liegt im Hinterland von Lesbos, zu Fuß braucht man mindestens zwei Stunden zum nächsten Supermarkt. Dort wird sonst nur die Industrie ausgelagert – und Müll. Deswegen wurde der Ort auch gewählt: Die Inselbevölkerung hat sich vehement gegen ein bestehendes Camp gewehrt. Das permanente Lager soll keine Schnittstellen der Begegnung mehr zulassen zwischen den Geflüchteten und den Bewohnerinnen und Bewohnern der Insel. Es ist nicht gewünscht, dass die Schutzbedürftigen das Camp verlassen, sie sollen dort komplett versorgt werden. Die Geflüchteten sollen zu Geistern werden. Das ist fatal und eine meiner persönlich größten Ängste. Wenn es keine Begegnungsstätten mehr gibt, dann verhärten sich politische und ideologische Fronten.

Was wünschst du dir stattdessen?

Wir brauchen legale und sichere Fluchtwege und faire Asylverfahren. Diese Lager sind unglaublich teuer und eine grobe Fehlentscheidung. Man müsste das Geld, das da ist, anders investieren, nicht in Stacheldraht, neue Lager und Abschreckung. Natürlich ist die Situation für viele nicht einfach. Aber man darf mit dem Geld, das man hat, keine Lager schaffen, in denen Menschen so unwürdig untergebracht werden.

Was macht diese Hoffnungslosigkeit mit dir persönlich als Berichterstatterin?

Manche Tage oder Wochen sind schwerer als andere. Oft wird darüber gesprochen, dass das Thema hoch emotionalisiert ist. Das stimmt. Es wäre ja auch fatal, wenn uns diese groben Menschenrechtsbrüche in Europa nicht beschäftigen würden. Auch wenn ich als Reporterin sehr nah an den Menschen dran bin, jeden Tag mit der Situation konfrontiert bin und natürlich manchmal vor Scham und Trauer die Wände hochlaufen möchte, verändert es ja nichts an den Fakten. Die sind nicht diskutierbar. Im Moment leben wieder 15 000 Menschen in ägäischen Lagern, die sie krank machen. Im Jetzt und auf lange Sicht.

Wie ist die Lage gerade für Journalist*innen, Fotograf*innen und Helfer*innen? Dürft ihr in das neue Camp?

Nein, das dürfen wir nicht. Wir wurden in den vergangenen Monaten immer wieder an freier Berichterstattung gehindert, auch nach dem Feuer. Diese Lager sind immer vom Militär kontrollierte Räume, für die man eine Ausnahmegenehmigung braucht, um reinzukommen. Das war auch bei Moria so. Doch dort haben zu Hochzeiten 15 000 Menschen rundherum wild gecampt. Man konnte mit den Menschen Zeit verbringen, sich unterhalten, zusammen einen Tee trinken, sich anschauen und auch einmal zusammen unter einem Baum liegen und über das Leben sprechen. Das geht heute nicht mehr. Ich kenne keine Journalistinnen und Journalisten, die nach dem Feuer wirklich offiziellen Zugang zu Kara Tepe hatten. Das macht es schwierig, den Menschen gerecht zu werden, auch, wenn man über sie berichtet. Sie werden losgelöst von jedem Detail, von ihrem Zuhause, auch wenn es temporär ist. Die Menschen bekommen nicht mehr die Möglichkeit, in Würde von sich selbst zu erzählen, Gastgeber zu sein, einfach ein handelnder Mensch sein zu können.

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