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„Vor dem Einschlafen frage ich mich, welche meiner Patienten noch leben“

Der Begriff Inflation klingt abstrakt, aber das Beispiel Libanon zeigt, wie sehr das Leben aller Bürger:innen in einem Land davon abhängt.
Foto: Stella Männer

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Der Libanon steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Währung hat über 90 Prozent ihres Wertes verloren und die jährliche Inflationsrate von 144 Prozent ist eine der höchsten auf der ganzen Welt. Da dem Staat Dollardevisen ausgehen, können im Ausland produzierte Waren, wie Benzin, bestimmte Lebensmittel oder Medikamente immer weniger importiert werden. Hier erzählen drei junge Libanes*innen wie sich die Wirtschaftskrise auf ihren Alltag auswirkt.

Ich weiß, dass ich nie wieder einen Job wie diesen finden werde“

protokolle lebanon medikamenten portraits elle

Foto: Stella Männer

Elle, 28, arbeitete bis Ende August im Café Aaliya’s Books im Beiruter Stadtteil Gemmayzeh. Seitdem das Café schloss, ist sie arbeitslos. 

Das Café „Aaliya’s Books“ war für mich nicht irgendein Arbeitsplatz, es war ein Safe Space, der erste Ort, an dem ich wie ein Mensch behandelt wurde. Bevor ich im Mai dort angefangen habe zu arbeiten, war ich fünf Jahre lang arbeitslos. Als Transfrau erlebe ich leider auch bei der Jobsuche viel Diskriminierung. Im Libanon ist eine Geschlechtsangleichung zwar legal, den Namens- und Geschlechtseintrag im Pass ändern zu lassen, ist hingegen sehr schwer. Eine solche Änderung müsste ich vor Gericht erstreiten, was mich viel Geld und Zeit kosten würde, ohne dass ich eine Garantie auf Erfolg hätte. Ich habe das Glück, klein und zierlich zu sein und als Frau gelesen zu werden. Doch sobald ich einem potenziellen Arbeitgeber meine Papiere zeige, ist das Gespräch beendet. Dass meine Erfahrungen kein Einzelfall sind, zeigen auch die Erhebungen internationaler NGOs.  

Bei „Aaliya’s Books“ habe ich bereits im Bewerbungsgespräch gemerkt: Das hier ist mein Ort. Die Manager und meine Arbeitskolleg*innen haben mir von Anfang an das Gefühl gegeben, dazu zu gehören. Hier hat mich zum Beispiel niemand absichtlich mit meinem alten männlichen Namen angesprochen. Wenn mich die Manager für meine gute Arbeit lobten, fühlte ich mich wertgeschätzt. 

Die Benzinkrise hat die Arbeit im Café verändert. Zum einen nahm die Anzahl der Tage zu, an denen wir Gerichte oder Getränke von unserer Karte nicht anbieten konnten, weil Zutaten fehlten. Als es ab Ende Juni kaum noch Benzin an den Tankstellen zu kaufen gab, wurde der Arbeitsweg für mich und meine Kolleg*innen zu einer echten Herausforderung. Ich wohne 45 Gehminuten vom Café entfernt, früher fuhr ich die Strecke mit dem Service, einer Art Sammeltaxi. Doch dann nahm die Zahl der Taxis auf den Straßen ab und die wenigen Fahrer, die übrig waren, erhöhten die Preise.

Irgendwann war ich gezwungen, den Weg zu laufen. Mein Heimweg nach Mitternacht war der Horror. Da es keinen Strom gibt, sind auch die Straßen nicht beleuchtet. Mit dem Licht meines Handys und der ständigen Angst, überfallen zu werden, habe ich mich jeden Abend auf den Weg gemacht. Nach und nach hat sich auch unsere Kundschaft verändert. Vor der Benzinkrise hatten wir eine sehr diverse Kundschaft aus libanesischen und internationalen Gästen. In den letzten Monaten waren es immer weniger Libanes*innen. Außerdem blieben unsere Kunden länger als vorher. Sie luden ihre elektronischen Geräte auf und arbeiteten, gleichzeitig konsumierten sie weniger. Der Strom im Café stammte aus einem Generator. Um Diesel zu sparen, beschlossen die Manager, die Öffnungszeiten zu verringern. Zwischen 15 und 19 Uhr hatten wir geschlossen.

Doch die Bemühungen halfen nicht. An einem Montag Ende August riefen uns die Manager zu einem Teammeeting und teilten uns mit, dass das Café auf unbestimmte Zeit schließen wird. Mein erster Gedanke war: Ich will nicht gehen. Die Trauer, meine Tage nicht mehr an diesem wunderbaren Ort zu verbringen, dominierte all meine Gedanken. Erst danach kam die Sorge: Wie soll ich Geld verdienen?

Der Tag, an dem das Café „Aaliyas Books“ schloss, gehört zu den schlimmsten meines Lebens. Für unsere Gäste und uns als Team veranstalteten wir eine Abschiedsparty. Den ganzen Abend lang schwelgten wir in Erinnerungen, tanzten und lachten mit Stammgästen. Gegen 1 Uhr nachts machte ich mich auf den Weg nach Hause. Etwa fünf Minuten vor meinem Zuhause tauchten auf einmal drei Typen auf. „Hey Süße“, riefen sie und fingen an, neben mir herzulaufen. Plötzlich zog der eine Mann eine Pistole hervor und forderte mich auf, ihm mein Handy und mein Porte­mon­naie zu geben. Ich gab ihm beides und flehte ihn an, mir nicht meine Papiere zu nehmen. Er nahm das Geld, warf das Portemonnaie auf den Boden und dann rannten die drei weg. Seitdem fühle ich mich in jeder Hinsicht beraubt. Ich habe keinen Job mehr, habe Angst, nachts das Haus zu verlassen und keine Hoffnung mehr. Mit der Arbeitssuche habe ich noch nicht begonnen. Ich weiß, dass ich nie wieder einen Job wie diesen finden werde.

Update: Ende Oktober öffnete das Café wieder, da die Stromausfälle weniger wurden. Elle hat ihren Job aber nicht wieder, sie möchte das Land verlassen.

„Ich bin Ärztin geworden, um Menschen zu helfen, nicht um sie zum Sterben nach Hause zu schicken“

protokolle lebanon medikamenten portraits aya

Foto: Stella Männer

Aya, 28, arbeitet als Assistenzärztin auf der Onkologie des privaten Krankenhauses der Lebanese American University im Beiruter Nobelstadtteil Aschrafiyya. 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich zum ersten Mal einer Patientin sagen musste, dass ich sie nicht mehr behandeln kann. Nicht weil wir medizinisch nichts mehr für sie tun könnten, sondern weil die Krebsmedikamente, die sie braucht, im Libanon nicht mehr erhältlich sind. Das war im Juni. Ich habe an dem Tag auf der Station für die ambulante Chemotherapie gearbeitet. Meine Patientin hatte Eierstockkrebs und sollte an dem Tag ihre nächste Behandlung bekommen. Trotz der Benzinkrise hatte sie es geschafft, von ihrem Wohnort im Norden des Landes nach Beirut zu kommen. Kurz vor der Behandlung rief mich unsere hauseigene Apotheke an und sagte mir, dass wir das Medikament nicht mehr vorrätig haben und Nachschub nicht mehr erhältlich ist. Ich habe tief Luft geholt, dann bin ich in den Behandlungsraum gegangen und habe ihr die schlechte Nachricht überbracht. Meine Patientin ist in Tränen ausgebrochen. 

Patient*innen wie sie haben drei Optionen: Die erste Möglichkeit ist, dass wir versuchen, sie auf ein ähnliches Medikament umzustellen. Diese Option gibt es nicht für alle Patient*innen und sie ist unzufriedenstellend, weil die Ausweichmedikamente in der Regel nicht richtig wirken. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Patient*innen über Freunde oder Familie versuchen, die Medikamente im Ausland zu bekommen. Das klingt vielleicht einfach, ist es aber nicht. In den meisten Ländern sind Krebsmedikamente nicht einfach auf dem freien Markt erhältlich, sondern nur über die behandelnden Krankenhäuser. Die letzte Option, die bleibt, ist, die Krebsbehandlung abzubrechen und zu Hause auf den Tod zu warten. Die Patientin mit dem Eierstockkrebs hat es zum Glück geschafft, ihre Medikamente in der Türkei zu kaufen, doch viele meiner Patient*innen können das nicht. Sie verschwinden aus meinem Arbeitsalltag und abends vor dem Einschlafen frage ich mich, wer von ihnen wohl noch am Leben ist.

Seit diesem ersten Gespräch musste ich mindestens zwanzig weiteren Patient*innen sagen, dass wir sie nicht mehr behandeln können. Für mich fühlt sich das an, wie ein Todesurteil auszusprechen. Die Liste der Medikamente, die im Libanon nicht mehr erhältlich sind, wird immer länger. 

Die Wirtschaftskrise hat mein Arbeitsleben komplett verändert. Um die Stromversorgung der überlebenswichtigen Stationen wie zum Beispiel der Intensivstationen zu garantieren, wird die Arbeit auf anderen Stationen zurückgefahren. Auf der Onkologie ist die Station für ambulante Behandlungen dienstags und freitags komplett geschlossen. Auf den Fluren wird dann der Strom abgestellt. Außerdem wird die Klimaanlage nun mehrere Stunden am Tag ausgeschaltet. Immer mehr meiner Kolleg*innen verlassen das Land und auch die Gespräche auf der Arbeit drehen sich fast nur noch ums Auswandern.

Auch ich arbeite daran, das Land zu verlassen. Wenn alles gut geht, kann ich nach Großbritannien ziehen. Dass es einmal so weit kommen würde, hätte ich nie gedacht. Ich liebe den Libanon und wollte nie woanders wohnen. Doch mittlerweile gibt mir nur noch die Aussicht bald wegzuziehen Kraft. Ich möchte mit diesem Gesundheitssystem nichts mehr zu tun haben. Ich fühle mich ohnmächtig und nutzlos. Ich bin Ärztin geworden, um Menschen zu helfen, nicht um ihnen eine Krankheit zu diagnostizieren und sie dann zum Sterben nach Hause zu schicken. 

Zeit mit meiner Familie zu verbringen hilft mir, mit dieser Situation umzugehen. Meine Kolleg*innen und ich treffen uns außerdem regelmäßig außerhalb des Krankenhauses. Dann spielen wir zum Beispiel Fußball, um den Kopf frei zubekommen. 

„Ich hasse das Gefühl von einem Rohstoff abhängig zu sein“

protokolle lebanon medikamenten portraits joseph

Foto: Stella Männer

Joseph, 32, arbeitet in einer Anwaltskanzlei in Beirut. Für seinen Job muss er täglich rund 30 Kilometer fahren.

Ich wollte nie in Beirut mit dem Motorroller fahren. Der Verkehr hier ist sehr chaotisch, niemand hält sich an Regeln. Rollerfahrer werden da schnell mal übersehen. Meine Horrorvorstellung ist es, von einem Auto erwischt zu werden und über die Motorhaube zu fliegen. Trotzdem habe ich im August mein Auto gegen einen Roller getauscht. Ich habe einfach keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Es war so schwer an Benzin zu kommen, dass ich mein Auto wochenlang nicht fahren konnte. Dabei bin ich beruflich darauf angewiesen.

Ich arbeite als Angestellter in einer Anwaltskanzlei für Unternehmensrecht in Beirut. Meine Aufgabe sind die Behördengänge. Möchte eine Kunde von uns zum Beispiel ein Unternehmen gründen, bringe ich die benötigten Dokumente von der Kanzlei zu der zuständigen Behörde und registriere dort das Unternehmen. Am Tag lege ich so um die 30 Kilometer zurück. 

Im Sommer wurde es immer schwerer, an Benzin zu kommen. Viele Tankstellen verkauften kein Benzin mehr und die, die noch geöffnet hatten, haben die Autos nicht mehr vollgetankt. Gleichzeitig führte die Verknappung dazu, dass immer mehr Menschen tanken wollten – aus Angst davor, dass die Situation noch schlimmer wird und weil die Regierung ankündigte, die Subventionen auf Sprit schrittweise aufzuheben. Das Benzin wurde also immer teurer. Zwischen Juli und Oktober hat sich der Preis etwa vervierfacht. Kilometerlange Schlangen vor Tankstellen wurden zur Normalität. Am Anfang war es eine Frage der Geduld: Menschen stellten sich schon früh morgens in die Schlagen, verbrachten ihre Samstage dort, bis sie nach vier oder fünf Stunden ein paar Liter Benzin bekamen. Mitte August spitzte sich die Situation allerdings so sehr zu, dass auch langes Warten keine Garantie mehr auf Benzin war. Ich erinnere mich noch genau an ein Wochenende Mitte August. Ich stand den ganzen Tag lang in einer Schlange und noch ehe ich an der Reihe war, schloss die Tankstelle, weil das Benzin aus war. Am nächsten Tag versuchte ich es bei einer anderen Tankstelle. Das gleiche passierte und auch am Tag darauf wiederholte sich die Situation. In dem Moment wusste ich: Es reicht!

Mein Arbeitgeber wusste zwar um die Situation und hatte Verständnis, dass ich tagelang in Schlangen stand, anstatt zu arbeiten, aber ich war frustriert und wütend. Ich wollte meine Zeit so nicht mehr verbringen. Ich empfand die Situation als entwürdigend. Die Suche nach Benzin bestimmte den Alltag. Es gibt hier kaum öffentliche Verkehrsmittel. Kein Sprit zu haben bedeutet nicht zur Arbeit zu kommen, nicht zu Freunden, zum Sport oder in den Supermarkt. Die Situation an den Tankstellen eskalierte, Menschen prügelten sich um Benzin. Außerdem war die Situation Nährboden für illegale Geschäfte. Tankstellenbesitzer konnten Benzin auf dem Schwarzmarkt für einen vielfachen Preis anbieten oder versorgten bevorzugt die eigene Familie und Freunde. Wer Kontakte hatte oder reich war, kam an Benzin, der Rest nicht. 

Ich habe mich zu der Zeit oft mit meinem Vater gestritten. Er konnte nicht verstehen, warum mich diese Vetternwirtschaft so aufregt. Er hat den Krieg miterlebt und ist es gewohnt, dass wirtschaftlicher Mangel Tauschgeschäfte begünstigt. Ich hasse die Ungleichheit, die dadurch entsteht. Ich hasse das Gefühl, von einem Rohstoff so abhängig zu sein, dass Tankstellenbesitzer auf einmal zu mächtigen Göttern werden und ihre Kund*innen zu Bettlern. Um mich dieser Abhängigkeit zumindest ein bisschen zu entziehen, habe ich mir am Montag nach dem besagten Wochenende meinen Roller gekauft. 

Natürlich verbraucht auch der Benzin, aber deutlich weniger. Mit meinem Auto habe ich durchschnittlich 40 Liter in der Woche verbraucht, mein Roller verbraucht auf den gleichen Strecken etwa zwölf. Außerdem muss ich mit meinem Roller nicht so lange anstehen. Viele Tankstellen haben eine extra Schlange für Roller und Motorräder, weil sie die zwischen zwei Autos schnell betanken können. Angst, von einem Auto angefahren zu werden, habe ich immer noch. Ich weiß, dass mich außer meinem Helm nichts vor Verletzungen schützen wird. Aber langsam gewöhne ich mich an diese Angst.

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