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„Viele Männer im Libanon erwarten von ihrer Frau, dass sie Jungfrau ist“

Illustration: jetzt

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„Früher kannte ich den Weg zum Glück: Ich würde mich erst in einen Mann verlieben, ihn dann heiraten, mit ihm Sex haben und Kinder großziehen. Genau in dieser Reihenfolge. Denn ‚Glück‘ heißt im Arabischen ‚farah‘ und ist gleichbedeutend mit ‚Ehe‘. Es kann demnach nur in der Ehe gefunden werden, dem Ort, an dem man auch seine Sexualität entdeckt. Als Kind war ich mir sicher, dass ich in meinem Alter längst verheiratet sein würde. Heute bin ich immer noch ledig, Sex hatte ich trotzdem schon. Auch dank meiner Cousine aus Deutschland: Die hat mir vorgelebt, dass Sex auch außerhalb der Ehe glücklich machen kann.

Mit 18 hat mir meine Cousine Milena aus Deutschland gezeigt, dass man Tabus auch brechen kann

Ich bin in der libanesischen Stadt Batrun aufgewachsen, mittlerweile arbeite ich in einem Krankenhaus in Abu Dhabi. Ich komme aus einer christlichen Familie und habe in Batrun eine private Nonnenschule besucht. Dort gab es keinen Sexualunterricht. Ich wusste also lange nicht, was Sex genau war. Es hat mich auch nicht besonders interessiert. Trotzdem war mir immer klar: Wenn ich erwachsen werde, würde ich heiraten und Kinder kriegen. Denn Kinder kriegen ohne zu heiraten, das ist im Libanon ein Tabu.

Mit 18 hat mir meine Cousine Milena aus Deutschland gezeigt, dass man Tabus auch brechen kann. Zusammen mit meinem Cousin besuchte sie jeden Sommer meine Familie. Milena ging nachts weg, datete Typen und nahm sie mit zu sich nach Hause. Es gibt auch andere Frauen im Libanon, die sich so verhalten wie meine Cousine. Trotzdem beeindruckte mich ihr Selbstbewusstsein. Bald ging ich mit ihr in die Clubs im Libanon, zusammen mit meinem älteren Bruder und meinem Cousin. Dort hatte ich auch meinen ersten Kuss mit dem deutschen Freund meines Cousins. Ich weiß noch, wie unangenehm es mir damals war, dass mein Bruder mich dabei gesehen hat. Am nächsten Tag war ich verkatert und hatte das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben.

Als ich drei Jahre später einen Bekannten von Milena küsste, hatte ich dasselbe komische Gefühl. Und das, obwohl ich verliebt in ihn war. Eine Woche später habe ich mit ihm geschlafen. Am nächsten Tag ging ich mit einem noch komischeren Gefühl zu meiner Cousine. Ich wusste nicht, wie ich das Erlebte einordnen sollte. Als ich Milena erzählte, was passiert war, lachte sie. Weil sie sich freute, dass ich meinen ersten Sex gehabt hatte. Sie hat mir immer das Gefühl gegeben, dass es in Ordnung ist, sich sexuell auszuleben. Also lebte ich mich aus: Die folgenden Wochen besuchte ich den Mann immer wieder heimlich in seiner Wohnung. Obwohl wir nur wenige Monate zusammen blieben, habe ich in dieser Zeit gelernt, offen über Sex und meine sexuellen Wünsche zu reden. Heute weiß ich, wie wichtig das für eine Beziehung ist. Mein Ex-Partner war bis jetzt der einzige Mann, mit dem ich geschlafen habe. Danach habe ich keinen Typen mehr gedatet, mit dem ich mich emotional verbunden gefühlt habe.

Meinen Eltern habe ich von meinen nächtlichen Besuchen nichts erzählt, sondern gesagt, dass ich bei Freunden übernachte, oder bei meinem Onkel. Es ist anstrengend, sich immer eine neue Ausrede ausdenken zu müssen, wenn es um Sex oder Party machen geht. Und das nur, weil ich eine Frau bin. Denn anders als bei mir, war es bei meinem Bruder immer völlig okay, wenn er bei seiner Freundin übernachtete. Er durfte sie sogar mit nach Hause nehmen. Ich dagegen musste meine Beziehung vor meinen Eltern verheimlichen.

Viele Männer erwarten immer noch von ihrer Ehefrau, dass sie Jungfrau ist

Auch meinen Freundinnen habe ich nicht erzählt, dass ich mit einem Mann geschlafen habe. Nur meine Cousine, mein Cousin, mein Bruder und mein bester Freund wissen davon. Ich finde nicht, dass ich irgendwas falsch gemacht habe. Trotzdem habe ich Angst, dass mich meine Freundinnen verurteilen würden, wenn sie Bescheid wüssten. Vor allem, weil ich keine ernsthafte Beziehung mit dem Mann hatte. Also halte ich meine Affäre lieber geheim. Wie so viele Frauen im Libanon.

Zwar gibt es auch viele Frauen im Libanon, die ihre Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit behalten, aber auch ganz viele, die Sex vor der Ehe haben. Sie reden nur nicht darüber, tun es lieber im Verborgenen. Zwar ist es für viele Frauen im Libanon völlig normal, sich mit freizügiger Kleidung in den Clubs und sozialen Medien zu zeigen. Und doch wollen die meisten die Fassade der sittsamen Frau aufrechterhalten, aus Angst,für ihr Verhalten verurteilt zu werden und keinen Ehemann zu finden. Eine Freundin von mir hatte vor ihrer Beziehung Sex mit einem anderen Mann. Als ihr Freund davon erfuhr, trennte er sich von ihr. Viele Männer erwarten immer noch von ihrer Ehefrau, dass sie Jungfrau ist. Das sind oft dieselben Männer, die große Töne spucken, wenn sie mit einer Frau geschlafen haben.

Das ist die große Ungerechtigkeit: Männer dürfen mit ihren Affären angeben, während wir sie verheimlichen müssen. Es gibt nur ganz wenige Frauen, die sich trauen, offen über ihren Sex vor der Ehe zu reden. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sich die Stimmung im Libanon gerade ändert und es für libanesische Frauen immer normaler wird, vor der Ehe Sex zu haben. Das liegt daran, dass viele junge Menschen im Ausland Urlaub machen oder dort studieren, und durch die sozialen Medien auch im Libanon vielmehr Kontakt ins Ausland haben. Auch innerhalb der Ehe haben Frauen mehr Möglichkeiten als früher: Es ist heute völlig normal, dass verheiratete Frauen ihre Karriere verfolgen. Zum Glück: Ich weiß zwar noch nicht, ob ich heiraten werde. Aber falls ich heiraten sollte, will ich auf jeden Fall auch als Ärztin arbeiten.“

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