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Weibliche Burschenschaft „Molestia“ will das Patriarchat zerstören

In der juristischen Bibliothek im Münchner Rathaus sind nur selten Gäste zugelassen – am Sonntag durften die Teilnehmerinnen des Rundgangs dort Station machen.
Foto: Stephan Rumpf

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Am Ende bündeln sie all ihre Wut. Sieben Frauen stehen im Blitz, dem Elektroclub im Deutschen Museum in München, den die meisten anderen Menschen wegen der Corona-Beschränkungen schon lange nicht mehr von innen gesehen haben. Verloren stapeln sich Stühle hinter der Garderobe, an der Bar stehen einsame Schnapsflaschen. In einem Kreis stehen die Frauen auf der Tanzfläche zusammen, sie sollen in Gedanken das Patriarchat zerstören.

Das Blitz ist die letzte Station einer dreistündigen Performance: Die weibliche Burschenschaft „Molestia“ hat zu einem Stadtrundgang geladen. „Scheideweg“ heißt die Aktion, doppeldeutig ist das natürlich gemeint. Denn die Molestia hat ein eindeutiges Ziel: Sie ruft das Matriarchat aus. Und vertraut dafür auf „die Kraft der Vulva“.  

Der Rundgang startet auf dem alten Südfriedhof, vor einem Grab, das heute keines mehr ist. Hier lag einmal eine junge Schwarze Frau namens Cula. Sie war Teil des sogenannten „Amazonencorps“, der 1892 in München in den Centralsälen und im Gärtnerplatztheater gastierte: junge, Schwarze Frauen, die aus dem heutigen Benin nach Bayern gebracht wurden, um dort von weißen Menschen bestaunt zu werden. Die junge Frau starb mit 17 Jahren am 13. November 1892 an einer Lungenentzündung, zwei Tage später wurde sie beigesetzt. Dafür wurde sie in ein buntes Kriegskostüm gekleidet und in einen gelben Sarg gebettet. Einer der Organisatoren der Amazonen-Show kündigte die Beerdigung medienwirksam an – und Tausende kamen. Als das Grab aufgelöst wurde, wurden Culas Gebeine der Anthropologischen Prähistorischen Sammlung überlassen.

Die Teilnehmerinnen können sich die Zukunft aus der Menstruationstasse lesen lassen

 

Die Molestia ist die erste rein weibliche Burschenschaft in München. Die erste überhaupt soll die „Hysteria“ in Wien gewesen sein, mittlerweile gibt es in Deutschland und Österreich einige „Schwesternburschenschaften“, zum Beispiel in Leipzig, Frankfurt und Jena. In München gehören zur Molestia, die lieber so wenig mit der Presse spricht wie irgend möglich, auch Schauspielerinnen und andere Akteurinnen der Kulturlandschaft. Auch Zeynep Bozbay, Schauspielerin bei den Kammerspielen, ist Teil des Performance-Rundgangs am Sonntag. Sie sitzt im Rückraum eines Transporters. Die Teilnehmerinnen können sich von ihr mithilfe eines „Hodenpendels“ eine Frage beantworten oder die Zukunft aus der Menstruationstasse lesen lassen. 

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Teil der Performance: Die Teilnehmerinnen können sich aus der Menstruationstasse lesen lassen – und so einen Einblick in die Zukunft bekommen.

Foto: Stephan Rumpf
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Zeynep sitzt bei der zweiten Station des Rundgangs in einem alten Transporter.

Foto: Stephan Rumpf

Zeynep Bozbay schüttet aus einer Flasche eine rote, Menstruationsblut sehr ähnliche Flüssigkeit in ein Weinglas, trinkt, spuckt den Inhalt in die Tasse. „Gina“, sagt sie dann zu einer Teilnehmerin, „die Welt braucht Heilung. Vertrau auf die weibliche Kraft – und auf die Schwesternschaft.“ Bei der Aktion am Sonntag dürfen nur Frauen teilnehmen, für männliche Teilnehmer muss gebürgt werden. Die Teilnehmerinnen, allesamt jung, haben sich alle alleine angemeldet, jede von ihnen nennt ähnliche Gründe: Neugier auf die Arbeit der Burschenschaft und Interesse am Thema. Eine von ihnen trägt eine Vulva-Kette um den Hals. Eine andere hat noch überlegt, ihren Freund als Begleitung mitzunehmen – sich dann aber dagegen entschieden, erzählt sie: „Ich wollte das alleine machen, und das ist auch gut so“. 

In der juristischen Bibliothek im Rathaus am Marienplatz ist der kleinen Runde Kira Ayyadi, Expertin zum Thema Rechtsextremismus, zugeschaltet. Der Laptop, aus dem sie spricht, steht auf zwei dicken Büchern. Zehn Minuten können die Teilnehmerinnen mit ihr über Verschwörungstheorien diskutieren. Die Tatsache, dass mit Attila Hildmann, Ken Jebsen und Xavier Naidoo derzeit vor allem Männer diese Theorien in der Welt verbreiten, wird nicht offen ausgesprochen – sie schwingt aber mit. Ayyadi betont, dass Rassismus und Antisemitismus bei Verschwörungstheorien im Grunde immer eine Rolle spielen würden.

Einige Hundert Meter weiter erinnert eine Performance in einem Hinterhof an Frauen, die gewaltsam sterben mussten. Sie stammten aus Iran, Afghanistan, Mexiko, Kolumbien. Ihre Portrait-Bilder liegen auf dem Boden, um eine große Vulva aus Erde herum, geschmückt mit Blumen und Früchten. „Wenn du eine von uns angreifst, greifst du alle an“, heißt es in einem Video, das davor abgespielt wird. Während die Teilnehmerinnen Konfetti auf die Vulva streuen und diese später mit Rotwein begossen wird, schaut ein weißer junger Mann neugierig aus seinem Fenster auf den angrenzenden Innenhof.

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Die Molestia ruft das Matriarchat aus – mit radikalen Mitteln.

Foto: Stefan Rumpf
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Die Vulva aus Erde, Blumen und Früchten wird auch mit Rotwein gegossen.

Foto: Stefan Rumpf
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Während des Rundgangs geht es auch um die sogenannten „Hygienedemos“ und Verschwörungstheorien.

Foto: Stephan Rumpf
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Am Brunnen vor der bayerischen Akademie der Wissenschaften können sich die Teilnehmerinnen die Hände Waschen – als Ausdruck eines Reinigungsrituals.

Foto: Stephan Rumpf
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Eine Performance erinnert an durch Gewalt gestorbene Frauen.

Foto: Stephan Rumpf
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In der juristischen Bibliothek im Münchner Rathaus sind nur selten Gäste zugelassen – am Sonntag durften die Teilnehmerinnen des Rundgangs dort Station machen.

Foto: Stephan Rumpf

Am Ende, im Außenbereich des Blitz, dann schließlich die finale Performance: Das Patriarchat wird verflucht, die deutsche Leitkultur und die weiße Vorherrschaft. In einem Feuer verbrennt ein kleiner Phallus aus Holz. Jede Teilnehmerin erhält eine schwarze Kerze – um damit das Matriarchat und die ganz eigene „Vulvahrheit“ in die Welt zu tragen.

Und als die Frauen danach mit brennenden Kerzen und einem halb ausgetrunkenen Bier in der Hand vor dem Blitz stehen, sagt eine von ihnen: „Na dann. Wir wissen, was zu tun ist.“

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