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„Mitleid fanden wir schon immer scheiße“

Tabea und Mari setzen sich mit „Not Just Down“ für Gleichberechtigung und Chancengleichheit ein.
Foto: privat; Bearbeitung: jetzt

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Manchmal wisse sie gar nicht so richtig, wo sie anfangen solle, sagt Tabea Mewes. Bis Menschen mit Behinderung wirklich die gleichen Chancen haben werden wie alle anderen auch, sei es noch so ein verdammt weiter Weg. Trotzdem hat die 29-Jährige einfach irgendwo begonnen, und zwar da, wo es relativ leicht ist, etwas anzufangen: im Internet. Ihr Blog „Not Just Down“ beschäftigt sich seit 2017 mit dem Alltag von Tabea und ihrem Bruder Marian, oder Mari, wie ihn Tabea immer nennt. Das Besondere: Der 21-Jährige wurde mit dem Down-Syndrom geboren.

„Geschichten aus dem Leben zu erzählen, die ein positives Bild vermitteln und Mut machen“, sagt Tabea, wenn man sie nach ihrem Ziel fragt. Sie wolle zeigen, dass das Leben mit einem Bruder mit Down-Syndrom „eben eigentlich ganz normal ist“. Tabea ist studierte Medienwissenschaftlerin, sie arbeitet halbtags an der Uni. Mari macht nach der Förderschule gerade eine zweijährige berufliche Orientierungsphase und schnuppert in verschiedene handwerkliche Berufe. Die Geschwister machen zusammen Urlaub, haben gemeinsame Freundeskreise. Dass sie sehr innig sind, wird beim Skypen sofort deutlich: Mari schmiegt sich an seine große Schwester, er ist müde, es ist Freitagnachmittag. Der 21-Jährige hat frei und freut sich darauf, später noch Harry Potter schauen zu können. Er liebt die ganze Harry-Potter-Reihe.

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Zusammen auf dem Festival? Kein Problem für die beiden.

Foto: privat
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Völlig glücklich und überrascht bei der Vergabe des Smart Hero Awards.

Foto: privat
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Menschen mit Behinderung dürfen nicht länger in Parallelgesellschaften leben, sagt Tabea.

Foto: privat
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Zu Besuch beim Bruder Tilman in Berlin.

Foto: privat

Tabea bezeichnet ihren Blog als „guten Anfang“, viele finden, es ist mehr als das: Fast 18 500 Menschen folgen „Not Just Down“ auf Instagram. Ihr Blog wurde kürzlich mit dem Spezialpreis der Jury des Smart Hero Awards ausgezeichnet, der Menschen und Initiativen ehrt, die ihr soziales Engagement in und mit Social Media umsetzen. Auf Instagram teilen die beiden vor allem Alltagsbilder. Aus dem Urlaub, zu Besuch in Berlin beim gemeinsamen Bruder Tilman, dem dritten im Bunde. Im Café oder auf einem Festival und schick gekleidet auf einer Feier. Tabea will andere Geschwister bestärken: „Auch ich habe gehadert, als ich noch in der Pubertät war, als ich Jungs, die zum ersten Mal zu mir nach Hause kamen, dann erklären musste, dass mein Bruder ein bisschen anders ist. Ich will solchen Geschwistern Worte geben und das Gefühl, dass man einfach alles normal und gut so ist, wie es eben ist.“ Auch Mari wird immer bewusster, dass er etwas bewirken kann. Er strahlt, als er erzählt, dass er ab und zu auf der Straße erkannt wird. Manchen Fans schenkt er sogar eine Umarmung und baut damit jede Berührungsangst direkt ab. Denn dass diese Berührungsängste existieren, das ist am Ende ja der Grund für „Not Just Down“. 

„Menschen mit Behinderung wachsen in absoluten Parallelgesellschaften auf“

„Welche Stellung haben Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft?“, fragt Tabea, und schiebt die Antwort gleich nach: Zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention seien wir von Chancengleichheit immer noch meilenweit entfernt. „Im alltäglichen Leben haben die Menschen viel zu wenig Berührung mit Menschen mit Behinderung. Das liegt daran, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist. Menschen mit Behinderung wachsen in absoluten Parallelgesellschaften auf.“ Auch Tabea sagt: Wäre Mari nicht ihr Bruder, hätte sie selbst kaum Kontakt zu Menschen mit Down-Syndrom. „Am Freitag waren wir im Kino, vorne saß eine Gruppe von Menschen mit Behinderung. Und das ist auch mir sofort aufgefallen, weil es eben nicht die Regel ist.“ Es sei ein erster Schritt, diese Sichtbarkeit zumindest im Instagram-Feed ihrer Follower*innen zu erhöhen. Denn das mache auch im Alltag sensibler.

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Zusammen im Urlaub: Schnorcheln gehört zu Maris liebsten Beschäftigungen.

Foto: privat
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Tabea sagt: Ohne Maris Behinderung wären die beiden sich vielleicht sogar weniger nah.

Foto: privat
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Tilman (rechts) ist Tabeas und Maris Bruder und lebt in Berlin.

Foto: privat
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Die beiden freuen sich jetzt schon wieder auf ihren gemeinsamen Urlaub im kommenden Jahr.

Foto: privat

Dass es Berührungsängste gibt, zeigt auch eine Studie von „Aktion Mensch“: Fast alle Deutschen (nämlich 94 Prozent) sind der Meinung, dass Kinder mit und ohne Beeinträchtigung in ihrer Freizeit die Möglichkeit haben sollten, gemeinsam aufzuwachsen. Anders sieht es bei gemeinsamem Unterricht aus: Die Gruppe der Eltern mit Inklusionserfahrung findet schulische Inklusion deutlich wichtiger und besser als die Eltern ohne Inklusionserfahrung (78 Prozent Zustimmung vs. 61 Prozent). Sichtbarkeit könne solche Vorbehalte abbauen, hoffen Tabea und auch Mari. Allein die Tatsache, dass so viele Menschen einen jungen Mannes mit Down-Syndrom in ihr virtuelles Leben hinein lassen, findet sie gut. Die meisten ihrer Follower*innen seien unter 30. „Ich wollte bewusst nicht diejenigen erreichen, die sich eh schon mit dem Thema auseinandergesetzt haben, weil sie vielleicht selbst ein Kind mit Down-Syndrom haben“, sagt Tabea. 

„Statt Glückwünsche haben meine Eltern mitleidige Nachrichten bekommen“

Langfristig wollen die beiden ihr Engagement noch stärker aus dem Internet in die reale Welt holen. Neulich standen sie für einen Vortrag vor einer Schulklasse: Die Zehntklässler*innen fragten auch eine Frage, die Tabea immer wieder hört: „Wenn jetzt eine Fee das Down-Syndrom wegzaubern könnte, würdet ihr das machen?“ Heute ist sich Tabea sicher: niemals. Aber sie sagt auch: Das war nicht immer so. „Meine Eltern waren direkt nach Maris Geburt sehr unsicher, was da auf sie zukommt, wie sie damit umgehen können. Wenn in dieser Unsicherheit jemand gekommen wäre, der das Down-Syndrom hätte wegzaubern können, dann hätten sie ,ja‘ gesagt.“

Das habe auch mit dem Umfeld gelegen: „Die Menschen waren eher traurig, statt Glückwünsche haben meine Eltern mitleidige Nachrichten bekommen“, erzählt Tabea. In der Schule sei es genauso gewesen. „Aber es ist so: Man muss uns nicht bemitleiden. Im Gegenteil. Mitleid fanden wir schon immer scheiße.“ Eins ist ihr dagegen umso wichtiger: Die ganze Familie versuche, Mari ein so normales Leben wie möglich zu ermöglichen, sagt Tabea. Und sie wünsche sich, dass noch viel mehr Menschen mit Down-Syndrom Verbündete haben, die sie mitnehmen und mit ihnen gemeinsam dafür zu sorgen, Normalität voranzutreiben und Barrieren abzubauen: in den Urlaub, in die Innenstadt, auf ein Festival. „Es geht darum, Menschen mit Behinderung ganz generell zu mehr Selbstständigkeit zu ermächtigen“, sagt Tabea. Klar sei das manchmal vielleicht anstrengend. Aber eben auch verdammt wichtig  – und mindestens genauso spaßig. 

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