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„Wir müssen jetzt verhindern, dass dieses Land untergeht“

Viele junge Menschen versammeln sich  am 22. August 2020, um vor Netanjahus Reisdenz in Jerusalem zu protestieren.
Foto: dpa/Maya Alleruzzo

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Wenn am Samstagabend in Jerusalem die Sonne untergeht, wird es laut in der Balfour Street, vor der Residenz von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: Seit Mitte Juli, also mittlerweile sechs Wochen, demonstrieren dort und auf dem nahen Paris Place Zehntausende gegen „Bibi“, wie Netanjahu genannt wird. Mit Trillerpfeifen und Trommeln, Kunstaktionen und Kostümen wollen die Menschen auf ihre Wut aufmerksam machen. Gegen den Ministerpräsidenten läuft ein Prozess wegen Korruption, die Zahl der Arbeitslosen stieg zeitweise auf über eine Million an, im Moment brauchen mehr als elf Prozent Arbeitlosengeld, doppelt so viele wie vor der Corona-Krise.

Kritik an der Politik Netanjahus gibt es seit Langem, bisher aber gingen deshalb vor allem ältere Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Nun steht aber auch die Jugend auf und verleiht den Protesten eine Dynamik, wie man sie in Israel seit Jahren nicht erlebt hat. Der Widerstand ist zum wöchentlichen Ritual geworden, ein fester Termin im Kalender. Dabei kommen die Proteste ohne Rednerinnen und Redner, ohne Programm aus, sondern lassen sich auf eine zentrale Forderung reduzieren: „Bibi, geh nach Hause“. Das rufen die Demonstrierenden bis spät in die Nacht. Bereits jetzt gelten die Proteste als die größten seit neun Jahren – und bisher hält sich die Zahl der Teilnehmenden konstant.

Was motiviert vor allem junge Israelis, wieder und wieder ihren Samstagabend mit Protesten zu verbringen? Warum treibt es sie gerade jetzt auf die Straße? Wir haben uns bei der aktuellen Demonstration in Jerusalem umgehört.

„Was ist das denn für ein Land, in dem jeder eine Waffe bedienen kann – aber junge Mädchen und Frauen nicht sicher sind?“

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Dana sorgt sich um die Frauenrechte in ihrem Land.

Foto: Steffi Hentschke

Dana Zarif, 28 Jahre

„Ich komme seit der ersten Kundgebung Mitte Juli hierher. Jeden Samstag komme ich aus Tel Aviv und protestiere bis in die Nacht gegen Bibi. Hier fühle ich mich mit meiner Wut auf unsere politische Lage nicht allein. Unser Ministerpräsident ist korrupt, wir sind ihm egal. Ich bin Sozialarbeiterin, ich erlebe jeden Tag, wie schlecht es den Menschen in diesem Land geht. Durch die Corona-Krise haben so viele ihre Arbeit verloren. Frauen erleben sexualisierte Gewalt – Zuhause oder im öffentlichen Raum. Und unser Ministerpräsident tut nichts! Vergangene Woche wurde ein 16 Jahre altes Mädchen von 30 Männern vergewaltigt. Was ist das denn für ein Land, in dem jeder eine Waffe bedienen kann – aber junge Mädchen und Frauen nicht sicher sind?

Mir ging es die vergangenen Tage sehr schlecht deshalb, ich habe viel geweint und heute fiel es mir wirklich schwer, mich für die Kundgebung aufzuraffen. Aber es tut gut, hier zu sein. Wir sind nicht die Mehrheit, aber wir sind viele und wir sind laut. Die Kundgebungen sind für mich ein Ventil und mein Safe Space.“

„Bibi soll abtreten, er interessiert sich überhaupt nicht für Minderheiten“

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Maya wünscht sich eine Regierung, die gegen den Klimawandel und für Minderheiten kämpft.

Foto: Steffi Hentschke

Maya Ben Haim, 17 

„Ich komme aus einem kleinen Kibbuz hier in der Nähe von Jerusalem. Normalerweise nimmt mich mein Vater mit zu den Demonstrationen, heute konnte er nicht. Deshalb habe ich zusammen mit meinen Freundinnen den Bus genommen. Ich bin 17 1/2, in Israel heißt das: In zwei Jahre geht es zur Armee. Wer weiß, vielleicht muss ich bald dieses Land verteidigen? Mir macht das Angst, denn ich bin unzufrieden mit der Politik hier. Klimaschutz ist für die Regierung überhaupt kein Thema, dabei wird meine Generation mit den Folgen zu tun haben. Minderheiten habe hier keine Rechte, Frauen haben nicht die gleichen Rechte wie Männer. Araber haben nicht die gleichen Rechte wie Israelis. Bibi soll abtreten, er interessiert sich überhaupt nicht für Minderheiten. Seit ich ein Baby bin, ist Bibi an der Macht. Das ist doch zu lange!

Wenn es nach mir ginge, hätten wir eine Frau als Ministerpräsidentin. Das können wir mit den Demonstrationen natürlich nicht erreichen. Aber wir können unsere Stimme erheben und vielleicht sprechen wir auch im Sinne einiger der Polizisten hier. Darunter sind viele Wehrdienstleistende, die sind kaum älter als ich. Vielleicht wäre sie gerade lieber Zuhause, vielleicht stünden sie lieber auf unserer Seite hier.“

„Die meisten haben die Lage der Palästinenser aus den Augen verloren“

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Itai setzt sich vor allem für die Rechte von Paliästinenser*innen ein.

Foto: Steffi Hentschke

Itai Feitelson, 25

„Viele rufen auf der Demonstration, Bibi gefährde die Demokratie. Meiner Meinung nach war Israel aber schon vor ihm keine richtige Demokratie. Deshalb stehe ich hier. Ich wollte dieses Jahr eigentlich reisen, erst habe ich mich verletzt, dann kam Corona. In ein paar Wochen beginnt mein Studium der Agrarwissenschaft. Bis dahin habe ich Zeit und die nutze ich, um auf die Besatzung im Westjordanland und auf die Lage der Palästinenser aufmerksam zu machen. Ich wohne in Jerusalem und versuche, jede Woche zu kommen. Seit mittlerweile mehr als sechs Wochen.

Ich habe arabische Freunde, die trauen sich nicht zu den Protesten – sie fürchten sich vor der Polizei. Die Mehrheit der Protestierenden hat die Besatzung nicht auf ihrer Agenda, das ist nicht ihr größtes Problem. Die meisten haben die Lage der Palästinenser aus den Augen verloren. Immerhin bieten die Kundgebungen mir einen Ort, um auf das Thema aufmerksam zu machen, auch innerhalb der israelischen Linken. Das ist das beste an diesen Protesten: Sie bieten einen Ort für alle, die in diesem Land etwas verändern wollen.“

„Hier geht es nicht um Politik, hier geht um mehr Menschlichkeit“

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Etamar trägt Kapitänsmütze und Schild, um zu sagen: „Das Boot sinkt!“ Den befürchteten Untergang seines Landes will er verhindern.

Foto: Steffi Hentschke

Etamar Maman, 29 Jahre

„Ich bin heute das erste Mal hier. Ich habe den ganzen Sommer in einem Ferienlager für Kinder gearbeitet und konnte deshalb vorher nicht teilnehmen. Meine Freunde haben mir immer wieder davon erzählt. Wir machen viel Musik zusammen, ich spiele Schlagzeug. Deshalb habe ich heute meine Trommeln mitgebracht. Wir müssen Krach machen, es geht hier doch um unsere Zukunft! Ich komme aus Ramat Gan, einem Vorort von Tel Aviv. Mir liegen besonders die Rechte der LGBT-Community am Herzen und es ist großartig zu sehen, dass hier so viele junge Leute zusammen dafür einstehen.

Die meisten sind wie ich nicht besonders politisch. Ich war vorher nie demonstrieren. Aber hier geht es nicht um Politik, hier geht um mehr Menschlichkeit und Miteinander. Auf meinem Schild steht: Das Boot sinkt! Deshalb trage ich einen Kapitänshut, denn wir müssen jetzt verhindern, dass dieses Land untergeht.“

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