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„Aus der Wut etwas Konstruktives machen“

Die Namen derjenigen, die bei dem Terroranschlag getötet wurden, sind in Hanau an vielen Orten zu finden.
Foto: Bastian Kaiser

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„Ich habe damals gedacht: Das Einzige, was mir eine innere Genugtuung geben würde, wäre, wenn ich jetzt auf Demos gehe und mich mit irgendwelchen Skinheads schlage.“ Ali Yildirim hebt seine schwarze Basecap vom Kopf, wischt sich über die kurzen, dunklen Haare und setzt die Kappe wieder auf, den Schirm nach hinten gedreht. Ali ist 27, seine Stimme tief und ernst. Damals – damit meint er die Tage nach dem 19. Februar 2020. Er ist wütend, wenn er über den Abend spricht, der sein Leben verändert hat – und das seines Kindheitsfreundes Ferhat beendete.

Seit dem 19. Februar 2020 ist in Hanau nichts mehr, wie es war. Bei dem rechtsextremistischen Terroranschlag wurden am Heumarkt in der Innenstadt und am Kurt-Schumacher-Platz in Hanau-Kesselstadt neun Menschen ermordet. Neben Alis Freund Ferhat Unvar tötete der Täter auch Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Kaloyan Velkov. Später erschoss er seine Mutter und sich selbst. Zuvor hatte er Videobotschaften und Pamphlete mit Verschwörungserzählungen und rassistischen Ansichten im Netz verbreitet. Am Tag nach der Tat übernahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen: Terrorverdacht, rassistische Motive. „Wäre der Täter in diese Bar reingegangen und es wären neun weiße Leute dort gewesen, hätte er nicht geschossen“, sagt Ali. Nach jetzigem Stand der Ermittlungen besteht daran wenig Zweifel.

Es war ausgerechnet Ferhats Mutter Serpil Unvar, die Ali davon überzeugte, sich nach der Tat nicht von Hass leiten zu lassen. „Wir machen aus dieser Wut jetzt nichts Negatives, sondern etwas Konstruktives“, habe sie gesagt, erzählt er. Am 14. November 2020, Ferhats 24. Geburtstag, gründete sie die Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Mehr als 30 junge Menschen engagieren sich mittlerweile in der Organisation. Die meisten davon kannten Ferhat persönlich – aus der Schule, vom gemeinsamen Abhängen, aus den Bars der Stadt. „Ferhat kannte eigentlich jeder hier in Hanau. Er war so ein bisschen der wahre Oberbürgermeister der jungen Leute hier“, sagt Ali, der Ferhat als „Lichtschalter“ beschreibt: tagsüber Spaßvogel, abends ernster Typ, der über Religion, Rassismus und die Gesellschaft an sich philosophierte.

Sie wollen den Rassismus bekämpfen, der Ferhat das Leben kostete

Seit zwei Monaten hat die Initiative Ferhat Unvar ihre eigenen Räume in der Hanauer Innenstadt gemietet, 700 Meter vom Heumarkt entfernt, wo der Täter Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Sedat Gürbüz ermordete. Hier sollen ab November Anti-Rassismus-Workshops für Schüler*innen, Sensibilisierungstrainings für Lehrer*innen und Beratungstermine für Eltern stattfinden, die im Austausch mit Lehrer*innen auf Übersetzungshilfe angewiesen sind. Das habe Menschen wie Ferhat und seiner Mutter damals gefehlt, erzählt Ali, der auch seine eigene Schulzeit mit Rassismus verbindet. Jetzt wollen er und seine Mitstreiter*innen aufklären. Und genau den Rassismus frühzeitig bekämpfen, der ihren Freund Ferhat das Leben kostete.

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Derzeit planen Fatih, Ali, Maruf und Serkan eine Kampagne zur Bundestagswahl im September.

Foto: Bastian Kaiser
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Die Initiative ist für die Mitwirkenden auch ein Ort der Trauer und des Miteinanders.

Foto: Bastian Kaiser
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Say Their Names – Sagt ihre Namen: Auch das ist den Hinterbliebenen der Opfer des Terroranschlags wichtig.

Foto: Bastian Kaiser
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Serkan und Fatih wollen durch Workshops zum Thema Rassismus Schüler*innen und Lehrkräfte weiterbilden.

Foto: Bastian Kaiser
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Ali ist Gründungsmitglied der Bildungsinitiative Ferhat Unvar.

Foto: Bastian Kaiser

Deutschland hat ein Rechtsextremismus-Problem. Laut der jüngsten Mitte-Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung sagen das etwa zwei Drittel der Deutschen. Keine andere Gefahr wird von so vielen als Risiko eingestuft. Und in keiner anderen führenden Wirtschaftsnation fühlt sich die Bevölkerung von Rechtsterrorismus so stark bedroht wie in Deutschland, so das Ergebnis einer aktuellen Befragung der Münchner Sicherheitskonferenz. Im vergangenen Jahr erreichten rechtsextremistische Straftaten einen neuen Höchststand seit Beginn der Erfassung im Jahr 2001. Als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Statistik im Mai vorstellte, nannte er Rechtsextremismus „die größte Bedrohung für die Sicherheit in unserem Lande“. Doch was folgt daraus?

„Die Realität, die traurige und harte Realität, ist einfach, dass es irgendwann woanders auch passieren wird“, sagt Ali. „2019 war Halle, 2020 war Hanau. Wer weiß, wann die nächste Stadt dran ist.“ Ob sich in Deutschland alle gleich sicher fühlen können? „Auf keinen Fall.“ Das Engagement in der Bildungsinitiative sei für viele hier ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor, erzählt Berivan, die am Klinikum Hanau ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester gemacht hat und ihren Nachnamen auch aus Sicherheitsgründen lieber nicht im Internet lesen möchte. Hassnachrichten in den sozialen Netzwerken hätten sie hier fast alle schon erhalten, sagt die 24-Jährige. Zum Beispiel ihr Freund Fatih, der sie vor ein paar Monaten in die Initiative holte. „Du gehörst nicht zu uns. Du brauchst dir keine Mühe zu geben. Das ist nicht dein Land“, steht in den Instagram-Nachrichten, die er bekommen hat. Anfangs habe sie Angst gehabt, sich in der Initiative einzubringen, sagt Berivan. Angst, selbst zur Zielscheibe rechter Gewalt zu werden. „Auch meine Eltern haben gesagt: ,Du musst aufpassen‘. Klar, man muss aufpassen. Aber es ist halt kein Grund, jetzt zu sagen: Okay, ich halte mich da raus.“

Das Vertrauen in die Polizei ist erschüttert – dabei wünschen sich die Engagierten Schutz 

Von staatlichen Institutionen sei bislang, von netten Worten einmal abgesehen, wenig Unterstützung gekommen, sagt Ali. Bisher finanziert sich die Initiative ausschließlich aus Spenden, Anträge für öffentliche Gelder laufen. Allgemein würde sich Ali mehr Rückhalt wünschen, zum Beispiel, dass täglich eine Polizeistreife bei den Räumen der Initiative vorbeikomme. Stattdessen sei die Polizei seit dem Anschlag gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund sogar noch aggressiver geworden, Racial Profiling sei an der Tagesordnung. Die Polizei wiederum wies ähnliche Vorwürfe im vergangenen Jahr entschieden zurück. Fakt ist aber: 13 SEK-Polizist*innen, die in der Tatnacht in Hanau im Einsatz waren, werden heute verdächtigt, sich in rechtsextremen Chatgruppen ausgetauscht zu haben. „Die Polizei ist dafür da, die Demokratie zu schützen, Bürgerinnen und Bürger vor Gefahren zu schützen. Wenn die Polizei selbst antidemokratische Strukturen aufweist oder Bürgerinnen und Bürger gefährdet, dann haben wir ein massives Problem“, sagt Derviş Hızarcı, Programmdirektor der Alfred Landecker Foundation und ehemaliger Antidiskriminierungsbeauftragter der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. „Da sehe ich eine große Gefahr.“

An einem Sonntagmittag im August klappt Ali in der Initiative seinen Laptop auf, neben ihm sitzen Serkan und Fatih, die ebenfalls in Hanau leben. Genau wie ihr Freund Ferhat Unvar sind sie in Kesselstadt aufgewachsen, dem Stadtteil, in dem beim Anschlag im vergangenen Jahr die meisten Menschen ermordet wurden. In ein paar Tagen ist der 19. August – dann ist das Attentat genau anderthalb Jahre her. Jetzt aber planen die Freund*innen eine Kampagne zur Bundestagswahl, die die Wahlbereitschaft junger Menschen ankurbeln soll. Außerdem wird die Initiative allein von September bis Dezember 40 Workshops an Hanauer Schulen geben. Weitere Anfragen kamen von Schulen und Unternehmen in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mit einer Demokratietrainer*innen-Ausbildung bei der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt bereiten sich alle hier auf ihre Einsätze vor.

Fast jede freie Minute verbringt der Kern der Initiative in den neuen Räumen am Hanauer Freiheitsplatz. Ali hat gerade seinen Job in einem Elektrofachmarkt aufgegeben, um sich voll auf die „Bildungsini“ konzentrieren zu können, wie er sagt. Ende des Jahres will er ein Masterstudium anfangen. Serkan koordiniert parallel zu seiner Ausbildung die Renovierungsarbeiten. Die Initiative soll ein Ort der gemeinsamen Trauer, vor allem aber der Begegnung werden. Ein Treffpunkt, an dem immer etwas los ist. „Es ist ein Seelenfrieden für jeden einzelnen, der hier mitwirken kann“, sagt er, „um dem sinnlosen Tod von einem Freund, einem Bruder, einem Familienmitglied, einen Sinn zu geben.“ Was alle hier antreibt? Die Hoffnung, etwas verändern zu können, erklärt Ali, zieht die Stirn kraus und zuckt mit den Schultern. „Wir sorgen einfach nur dafür, dass meine Kinder, dass Marufs Kinder, dass Fatihs Kinder vielleicht nicht dasselbe durchmachen müssen, wie Ferhat es musste, wie ich es musste.“

Diese Recherche wurde mit dem Sylke-Tempel-Fellowship 2021 gefördert.

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