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„Deutschland schuldet mir ein Leben“

Sie wurden am 19. Februar 2020 erschossen: Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Illustration: FDE

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Am Freitag ist der rechtsextreme Anschlag in Hanau ein Jahr her. Am 19. Februar 2020 schoss der Täter mit seiner Waffe gezielt auf Personen mit Migrationshintergrund und ermordete neun junge Menschen: Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Hamza Kurtović, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Er erschoss sie in der Shisha-Bar Midnight am Rande der Hanauer Innenstadt und in einer wenige Meter weiter liegenden Café-Bar. Wenig später eröffnete er in einer weiteren Bar im Hanauer Stadtteil Kesselstadt erneut das Feuer. Danach tötete er seine Mutter und sich selbst. „Wir stellen uns denen, die versuchen, Deutschland zu spalten, mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegen“, sagte Kanzlerin Angela Merkel anlässlich des Jahrestags. Doch die Hinterbliebenen der Opfer fühlen sich von Politik und Polizei im Stich gelassen, schlafen kaum, sind verzweifelt. Emiş Gürbüz, Çetin Gültekin und Armin Kurtović erzählen, wie sie das vergangene Jahr erlebt haben und was sie fordern. 

hanau protokolle opfern sedat guerbuez

In dieser Bildergalerie zeigen wir Illustrationen der neun Opfer. Sedat Gürbüz, 30, war Besitzer der Midnight Bar.

Illustration: jetzt
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Fatih Saraçoğlu, 34, war drei Jahre zuvor aus Regensburg nach Hanau gezogen.

Illustration: jetzt
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Hamza Kurtović, 22, starb in der Arena-Bar, als er auf einen Freund wartete.

Illustration: jetzt
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Kaloyan Velkov, 33, hinterlässt einen kleinen Sohn.

Illustration: jetzt
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Gökhan Gültekin, 37, wurde in Hanau geboren.

Illustration: jetzt
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Ferhat Unvar, 22, traf sich oft mit Freund*innen in der Arena-Bar.

Illustration: jetzt
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Mercedes Kierpacz, 35, arbeitete in der Tatnacht in der Arena Bar.

Illustration: jetzt
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Said Nesar Hashemi, 21, wuchs in Hanau auf.

Illustration: jetzt
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Vili Viorel Păun, 23, versuchte noch den Mörder zu stoppen.

Illustration: jetzt

„Mein Kind war auch ein Mitbürger. Warum liegt er jetzt unter der Erde?“

 

Emiş Gürbüz, die Mutter von Sedat Gürbüz, fordert Gerechtigkeit: 

„Den Schmerz kann man nicht beschreiben. Er wird täglich mehr. Ich brenne innerlich. Ich schlafe nicht, meine Gedanken, mein Herz – alles ist voll mit meinem Kind. Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich warte immer noch jeden Tag, dass mein Kind wieder zurückkommt. Wenn ich am Grab bin, sage ich: ‚Sedat, du hast sehr, sehr lang geschlafen. Wach jetzt auf. Ich warte auf dich.‘ Ich vermisse ihn so sehr, ich vermisse es, seine Stimme zu hören. Wie soll ich ihn beschreiben? Sedat kann man nicht beschreiben. Sedat war ein sehr beliebtes Kind, er war mein erstes Kind. Er war verwöhnt. Er hatte ein riesengroßes, gutes, sauberes Herz. Er liebte das Leben. Er war ein Dietzenbacher, er hat Dietzenbach geliebt. Der Mörder hat alles zerrissen. Er hat Sedat sein Leben geklaut. Und unser Leben ruiniert.

Ich lebe nicht. Ich lebe wirklich nicht mehr. Der Friedhof ist meine Wohnung. Täglich sind wir zwei oder drei Mal dort. Es hat in letzter Zeit so viel geschneit. Ich kann sowieso nicht schlafen. Und wenn ich nachts um drei Uhr aus dem Fenster schaue, sage ich: ,Sedat. Überall ist jetzt Schnee.‘ Ich zünde Kerzen an, damit Sedat nicht so kalt ist. Auf dem Friedhof ist es leer. Nur ich bin dort. 

Sedat war ein besonderes Kind. Er war groß, gut aussehend, gepflegt. Er war so hübsch. Das war ihm wichtig. Er hat die Menschen geliebt, er hat das Leben geliebt. Und wo ist er jetzt? Unter der Erde. Womit hat er das verdient? Mein Kind war auch ein Mitbürger. Warum liegt er jetzt unter der Erde? Wenn der Mörder mein Kind gekannt hätte, hätte er Sedat niemals ermorden können. Er hat immer allen Menschen geholfen. Er hatte hier die Midnight Bar, er war bei allen beliebt. Bei seiner Beerdigung kamen Menschen aus Berlin, München, Stuttgart. 

Die Behörden hätten das verhindern sollen. Deutschland ist in meinen Augen schuldig. Deutschland schuldet mir ein Leben. Wir wollen lückenlose Aufklärung. Die Verantwortlichen müssen ihre Fehler zugeben. Behörden und Polizei haben ihre Aufgaben nicht richtig gemacht, das müssen sie zugeben. Dass wir ein halbes Jahr nach dem Anschlag nicht demonstrieren durften, angeblich wegen der Corona-Auflagen, war ein Skandal. Das war eine Ausrede. Für mich ist die Pandemie nicht so schlimm wie die Nazis. Neun Kinder hat der Mörder aus dem Leben gerissen. Wir bekommen kaum Unterstützung. Helga Giardino vom Dietzenbacher Ausländerbeirat war die Einzige, die uns unterstützt hat. Sonst haben wir in Dietzenbach keine Hilfe bekommen. Wir fühlen uns alleingelassen. 

Sedat hatte Träume und Pläne. Der Mörder hat uns alles genommen. Wenn Menschen von zehn Opfern sprechen und dabei die Mutter des Mörders einschließen – nein! Es sind neun Opfer, die aus Rassismus getötet wurden. Sedats Zimmer sieht noch genauso aus wie vor einem Jahr. Sein Bett, sein Schrank, seine Klamotten, sein Ausweis, alles. Überall hängen Bilder von Sedat. Wir haben nicht nur unser Kind verloren, wir haben alles verloren. Ich möchte nicht mehr leben. Ich kann nicht nachdenken, ich habe nur den Gedanken: ,Mein Kind‘. Die Nacht des 19. Februar ist schwarz. Ich möchte diese Nacht ausradieren. Ich habe eine Psychologin, aber das hilft mir auch nicht. Ich nehme so viele Tabletten. Ich habe keinen Kopf mehr. Nichts. 

Mein Mann hat jahrelang gearbeitet. Er hat sich nie krankschreiben lassen. Er ist letztes Jahr notoperiert worden. Es war ein einem Sonntag, sein Blinddarm ist beinahe geplatzt, er konnte nicht mehr: Jeden Tag weinen, ans Grab gehen, über Sedat sprechen. Am Ende wirst du krank.“

„Ich weiß, wie viel Gramm das Herz meines Bruders gewogen hat. Das sind Informationen, die dich kaputt machen“

Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan Gültekin, ist wütend – und denkt jede Minute an Gökhan: 

„Gökhan war ein Optimist. Er war ehrlich, hilfsbereit, zuverlässig. Er war das Haupt-Fundament unseres Hauses. Mein Vater hat seinen Tod nicht überlebt. Er hat zweieinhalb Jahre Krebs gehabt, mit Chemo und Strahlentherapie. Gökhan hat ihn am Leben erhalten. Wäre er nicht getötet worden, wäre mein Vater heute noch am Leben. Überall, wo ich hinschaue, sehe ich meinen Bruder. Überall sind Erinnerungen. Ich war kein leichter Bruder. Ich war streng mit ihm. Er war acht Jahre jünger als ich, aber er war immer ruhig. Wenn ich streng war, hat er sich oft mit seinem Zeigefinger ein bisschen an seinem Kopf gekratzt. Damit hatte er mich immer rumbekommen, das wusste er. Ich habe diese Geste so geliebt, dass ich dann alles vergessen habe. Wenn ich Bilder sehe, auf denen er das macht, zerreißt es mir jedes Mal mein Herz. 

Ich habe seit einem Jahr nicht mehr gut geschlafen. Das ist die schlimmste Folter. Man verblödet. Wenn mich jemand fragt, wie ich heiße, muss ich nachdenken, um Çetin zu sagen. Gökhan fehlt mir jede Stunde, jeden Tag. Ich habe noch mehr Freunde, die Gökhan heißen. Wenn sie mich anrufen und ich sehe den Namen auf dem Handydisplay – das Gefühl ist unbeschreiblich. 

Ich kämpfe für meine Mutter. Ich versuche, sie am Leben zu halten, ihr Moral zu geben. Aber es gibt Momente, da muss ich ins Bad, damit sie mich nicht weinen sieht. Es ist so schlimm. Es geht uns heute wesentlich schlechter als direkt nach dem Anschlag. Das liegt am System. Es ist, als hätte es einen Anschlag nach dem Anschlag gegeben. 

Ich habe Gökhan am Tag vor dem Anschlag das letzte Mal gesehen. Und ich weiß noch genau, dass er mich am 19. Februar um 21 Uhr angerufen und gefragt hat, ob ich Hunger habe. Er hatte gerade Nudeln bestellt. Ich hatte keinen Hunger. Auf den Bildern, die am Tatort gemacht wurden, sieht man in seinem Gesicht noch Nudelreste. Das sind Bilder, die kriegst du nicht aus deinem Kopf. Wenn ich versuche zu schlafen, kommen diese Bilder. Ich habe mir die Autopsie-Bilder angeschaut. Auf denen sieht man, wie ein Pathologe Gökhans Herz in der Hand hält. Ich weiß, wie viel Gramm das Herz meines Bruders gewogen hat. Das sind Informationen, die dich kaputt machen. Das wünsche ich niemandem. Wem haben wir etwas getan in dieser Welt? Wem? 

Rassismus ist hier nicht nur vorhanden, sondern wird regelrecht gepflegt. 1945 hat Deutschland gesagt: Nie wieder. Heißt das, dass nur alle halbe Jahre was passieren darf? Wie lange war zwischen Hanau und Halle? Zwischen Halle und Kassel? Zwischen Kassel und München? Die Rechtsextremen sind immer besser vernetzt. Die Abstände werden kürzer. Und die Politik lässt das zu. Wir sind doch nicht dumm. Ich wurde 1974 in Hanau, Stadtkrankenhaus, geboren. Ich hatte bessere Zeugnisse als die Deutschen, die Peter heißen. Ich arbeite wie alle anderen. Und dann kommen Menschen und bringen mich um, weil ich so aussehe, wie ich aussehe? Wann bin ich angekommen bei euch? Wann bin ich integriert? Wann gehöre ich zur Gesellschaft? Erinnern heißt verändern. 

Wir wollen nicht mehr leiden, weinen, getötet werden. Wir wollen das nicht mehr. Wenn Deutschland das so will – dann sagt uns das. Dann packen wir unsere Sachen und gehen. Aber ich will bitte keine Schönrederei mehr. Wir sind doch keine Schafe, die zum Schlachtfeld gehen. Macht was gegen Rassismus. Und wenn ihr das nicht wollt, dann nehmt den Rechtsextremen doch wenigstens die Waffen weg. Darum bitten wir seit dem Anschlag. Was ist stattdessen passiert? Im vergangenen Jahr stiegt die Zahl der Rechtsextremisten, die einen Waffenschein haben, um 35 Prozent an. Was soll das? Ist das eine Machtdemonstration? Wie kann das sein? Bin ich in einem falschen Film? Das macht uns natürlich noch zorniger. Wir wollen nicht mehr verarscht werden. Ich bin ein normaler Bürger, der um Gerechtigkeit für seinen Bruder schreit. 

Wir haben alles verloren. Die Polizei hat so schlechte Arbeit gemacht. Alleine, dass über den Notruf niemand erreicht wurde. Es hätten Leben gerettet werden können. Und Innenminister Peter Beuth von der CDU spricht von exzellenter Polizeiarbeit? Das ist so schockierend. Die schützen sich doch nur gegenseitig.“

„Mein Leben muss hier wohl nicht beschützt werden? Oder das Leben meiner Kinder?“

Armin Kurtović, der Vater von Hamza Kurtović, hat sein Vertrauen in die hessische Polizei verloren: 

„Wie sollen wir trauern? Wir konnten uns nicht einmal würdevoll von unseren Kindern verabschieden. Wir haben acht Tage nicht gewusst, wo unser Sohn ist. Acht Tage. Dann konnten wir ihn aus der Pathologie abholen. Als ich gesehen habe, wie sie ihn zugerichtet haben – ich bekomme diesen Anblick nicht aus meinem Kopf. Ich gehe damit schlafen. Ich wache damit auf. Kein Mensch hat uns auf das vorbereitet, was die da machen. Das sind keine Gerichtsmediziner, das sind Metzger.

Wie war mein Sohn? Seine Freunde sagen, er war eine moralische Institution für sie. Er war verlässlich, immer für andere Menschen da. Wir schlafen kaum noch. Ich habe früher gesehen wie ein Adler. Jetzt muss ich eine Brille tragen. Ich habe meine Sehkraft verloren. Der wenige Schlaf, das unregelmäßige Essen, das beeinflusst den Blutzucker und schlägt aufs Augenlicht. 

Es kann nicht sein, dass der Vater eines Opfers die Recherchearbeit macht, weil er will, dass sich etwas ändert. Ich mache das für meinen Sohn. Ich habe noch drei andere Kinder. Ich will, dass kein anderer Vater das erleben muss, was ich erlebt habe. Ich bin in Bayern geboren und dort bis zur 6. Klasse in die Schule gegangen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dahin zurückzuziehen. Denn mein Sohn liegt hier in Hanau begraben. 

Es ist leicht, im Fernsehen Floskeln von sich zu geben, zum Beispiel: Es müssen alle ohne Angst leben können. Dass Lehren gezogen werden. Das sind nur Lippenbekenntnisse. Fehler sind gemacht worden und müssen eingestanden werden. Das machen die Politiker aber nicht. Der Notausgang in der Arena Bar, wo mein Sohn erschossen wurde, war seit Jahren abgeschlossen. Auch in der Tatnacht. Das war bekannt. Wie kann das sein? 

2018 gab es diesen bewaffneten Vorfall hier in Kesselstadt. Mein älterer Sohn wurde bedroht. Die Jungs haben damals die Polizei geholt, am Ende sollten sie den Polizeieinsatz noch selber bezahlen. Es wurden nicht einmal Ermittlungen aufgenommen. Heute weiß man nicht: War es der Täter vom 19. Februar, oder nicht? Und ich weiß nicht, was schlimmer wäre. Dass er es war und man ihn hätte vorher fassen können? Oder dass wir hier noch so einen rumlaufen haben?  

Ich habe das Vertrauen in die hessische Landespolizei verloren. Was wir alles erlebt haben, ist unglaublich. Es gab Opfer-Täter-Umkehr. Das ist in Hessen seit 20 Jahren so. Als der Vater des Täters sagte, dass noch mehr Menschen sterben könnten – glauben Sie, jemand hat mich angerufen und gesagt: Bitte passen Sie auf sich auf? Nein. Wir wurden angerufen und dazu aufgerufen, keine Blutrache zu üben. Was soll das? Habe ich einen kriminellen Nachnamen oder was? Mein Führungszeugnis ist sauber. Mein Leben muss hier wohl nicht beschützt werden? Oder das Leben meiner Kinder? Wenn ich hier Störfaktor bin, dann soll man mir das sagen. 

Wie kann man sagen, der Täter sei vorher unauffällig gewesen? Es gab Hinweise. Sollte er noch ein Fax schicken oder was? Das ist komplettes Behördenversagen. Wie sollen wir uns sicher fühlen? Ich verlange schon seit Monaten, dass Innenminister Peter Beuth von der CDU zurücktritt. Hinter verschlossenen Türen heißt es dann zu uns: Woher nehmen Sie sich das Recht, uns Behördenversagen vorzuwerfen? Alles, was an Hilfen kam, kam aus Berlin. Von Hessen haben wir gar nichts bekommen. Nichts.

Wenn dieses Attentat in einem Bierkeller passiert wäre und Jens und Marie wären gestorben, hätte man sofort gefragt, wieso der Notausgang abgeschlossen war. Es bestehen weder der politische noch der behördliche Wille, das zu lösen. Muss man die Staatsanwaltschaft dazu peitschen, zu ermitteln? Und ich kann mir jetzt schon vorstellen, wie das alles endet: eingestellt, verjährt. Dafür ist die Politik verantwortlich. Bitte schreiben Sie es so auf. Wenn nichts passiert – was hat das hier mit einem Rechtsstaat zu tun?“

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