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Adrien wurde auf einer Demonstration in Budapest festgenommen

Foto: Roman Koziel

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Adrien schläft zur Zeit nicht gut. Weil er viel darüber nachdenkt, wie die ganze Sache ausgehen wird. Am 12. Dezember wurde der 32-jährige Kanadier, der in Ungarn an der Central European University (CEU) im Bereich Gender Studies promoviert, bei einer Demonstration in Budapest festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, als Teil einer Gruppe Polizisten angegriffen zu haben, das Strafmaß für ein solches Vergehen sind zwei bis acht Jahre Haft. „Als ich gehört habe, was man mir vorwirft und zu welcher Strafe das führen kann, konnte ich das gar nicht glauben“, sagt Adrien am Telefon. „Das war völlig surreal.“ Gleichzeitig muss er jetzt in den regierungsnahen ungarischen Medien lesen, er sei ein „Soros-Agent“: Ein Ausländer, der vom liberalen, in Ungarn geborenen US-Milliardär und Philanthropen George Soros zum Protest gegen die ungarische Regierung angestachelt worden sei.

Adrien Beauduins Fall ist kein großer – aber einer, von dem man trotzdem viel über die politische Lage in Ungarn lernen kann. Weil sich darin die aktuellen Proteste, die Propaganda der ungarischen Regierung von Viktor Orbán und das Schicksal der CEU verbinden. 

Um zu verstehen, wie genau, muss man sich die Ereignisse der vergangenen Woche noch mal genauer ansehen. Also zurückspulen von Adrien, der heute auf seinen Prozess wartet, auf Anfang Dezember 2018: 

Am 3. Dezember gibt der Rektor der CEU bekannt, dass seine Universität von Budapest nach Wien ziehen wird – sie seien „hinausgedrängt“ worden, sagt er. Schon 2017 hat die ungarische Regierung ein neues Hochschulgesetz verabschiedet, das ausländische Universitäten in Ungarn nur dann zulässt, wenn sie auch einen Campus im Herkunftsland haben – im Falle der CEU, die 1991 von George Soros gegründet wurde, wären das die USA. Die Universität hat sich bemüht, die Vorgabe zu erfüllen – doch die ungarische Regierung hat das Abkommen über eine Kooperation mit einem New Yorker College nicht unterzeichnet.

Das Gesetz wurde von Anfang an als gegen die CEU gerichtet verstanden, die EU leitete sogar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein, das im Moment noch läuft. Staatschef Viktor Orbán fährt seit einigen Jahren eine Kampagne gegen Soros, der mit seinem Vermögen unter anderem Bürgerrechtler und Flüchtlingshelfer unterstützt. Zum Beispiel beschuldigt Orbán ihn, 2015 gezielt Migranten nach Europa geleitet zu haben, um die europäische Kultur zu unterwandern.

Adrien versucht, im Gedränge das Gleichgewicht zu halten. Dann wird er festgenommen

Als sich im November 2018 abzeichnet, dass die CEU und die Regierung zu keiner Einigung kommen werden, schließen sich Studenten der CEU und anderer Budapester Universitäten zusammen, um für akademische Freiheit zu protestieren. Unter ihnen ist auch Adrien. Am 24. November besetzen sie den Platz vor dem ungarischen Parlament und gründen dort eine „freie Universität“: Eine Woche lang veranstalten sie Vorlesungen, Konzerte und Partys. 

Während dieses Protests erreichen die ersten Meldungen über eine geplante Änderung im Arbeitsrecht die Studenten: Die zulässige Anzahl an Überstunden soll von 250 auf 400 pro Jahr erhöht werden und Arbeitgeber sollen bis zu drei Jahre Zeit haben, sie auszuzahlen. „Wir haben direkt Verbindungen mit Gewerkschaften geknüpft, um uns solidarisch zu zeigen“, sagt Adrien. Darum sind die Studenten auch auf den Demos gegen das sogenannte „Sklavengesetz“ präsent, als es am 12. Dezember schließlich verabschiedet wird.

Adrien kommt an diesem 12. Dezember abends aus der Bibliothek und geht zur Demo vor dem Parlament, bei der sich mehrere Tausend Menschen versammelt haben. Etwa eine Viertelstunde vor Mitternacht gerät er dann in die Situation, die er so beschreibt: „Ein paar Leute haben einen Schlitten aus dem Weihnachtsbaumschmuck geklaut und wollten ihn anzünden. Dann hat die Polizei eingegriffen und ich bin hinter die Polizeilinie geraten, weil ich in der Nähe stand. Vor mir sind Leute hingefallen und ich habe in dem Gedränge versucht, das Gleichgewicht zu halten, um nicht auf jemanden zu treten. Dann wurde ich festgenommen.“ Damit habe er überhaupt nicht gerechnet und sei völlig überrascht worden: „Die Demo war legal und ich habe ja nichts gemacht!“

Adrien und vier weitere Demonstranten, die er nicht kennt, werden aufs Polizeirevier gebracht. Sie müssen über Nacht dort bleiben. Am Morgen des 13. Dezember erfährt Adrien, was man ihm vorwirft. „Das Interessante ist: Alle fünf Festgenommenen haben genau die gleiche Anklageschrift bekommen“, sagt Adrien. „Bei jedem von uns steht, dass wir mit der linken Hand einen Polizisten geschlagen haben und versucht haben, ihn zu treten. Das ist total absurd!“ Der Staatsanwalt will ein Eilverfahren, innerhalb von 72 Stunden soll Adrien vor Gericht gebracht werden. Doch die Beweise reichen nicht aus. Am 14. Dezember gegen 17 Uhr, also nach 41 Stunden in Gewahrsam, darf Adrien gehen. 

„Ich habe Angst. Die Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn ist nicht immer sicher“, sagt Adrien

„Die Klage wurde nicht fallengelassen und die Untersuchungen laufen noch“, sagt Kata Nehéz-Posony, Anwältin von der Menschenrechtsorganisation „Hungarian Civil Liberties Union“, die Adrien kostenlos vertritt. „Soweit wir wissen, haben zwei Polizisten ausgesagt, dass sie gesehen haben, wie Adrien macht, was man ihm vorwirft.“ Er hingegen sagt, dass er nicht geschlagen und nicht getreten habe. Er habe lediglich seine Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, als die Polizei die Menschen zusammendrängte. Die ungarische Polizei hat auf eine Bitte von jetzt um Stellungnahme bisher noch nicht reagiert.

Wann der Prozess stattfinden wird, ist nicht klar. „Ich habe Angst. Die Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn ist nicht immer sicher“, sagt Adrien. „Ich habe gehört, dass das Urteil stark davon abhängt, wer der Richter ist.“ Mit seiner Anwältin versucht er, Beweise für seine Unschuld zu sammeln. Vor allem hoffen sie auf Videomaterial. Auf einer News-Seite wurde ein Video der Schlitten-Aktion und des Polizeieingriffs veröffentlicht, auf dem Adrien am Rande zu sehen ist. Er ist nicht die ganze Zeit im Bild. Aber wenn er zu sehen ist, erkennt man, dass er ruhig steht und die Szene beobachtet. Er zündelt nicht am Schlitten und wendet sich nicht gegen die Polizisten. 

Bisher sieht es also so aus, als sei Adrien einfach ein ganz normaler, politisch aktiver Student, der in eine etwas brenzlige Situation geraten ist, in der er sich vielleicht falsch verhalten hat, vielleicht nicht. Mehr nicht. In der ungarischen Berichterstattung zu seinem Fall sieht das aber etwas anders aus. „Die große Mehrheit der Medien ist in den Händen von Orbán-Verbündeten, das ist eine riesige Propagandamaschine. Seit Beginn der Demos wird berichtet, dass sie von Soros-Söldnern angeführt werden“, sagt Adrien. Und als Ausländer, der an der CEU studiert, stehe er, wie er sagt, „auf der Liste der Hauptfeinde. Mein Fall ist für die Propaganda sehr nützlich. Zum Glück haben aber auch freie Medien darüber berichtet.“ Seine Anwältin sagt, dass die negative Berichterstattung sie nicht überrasche: „Die Propagandamedien nennen jeden einen ‚Soros-Agenten‘, der nicht mit der Regierung übereinstimmt. Das beeinflusst nicht, wie wir mit dem Fall umgehen oder darüber sprechen. Wir sind so ehrlich, wie es nur geht, und in Adriens Fall gibt es nichts zu verstecken, weil er sich keines Vergehens schuldig gemacht hat.“

Eine heterogene Gruppe demonstriert für freie Medien, freie Wissenschaft und unabhängige Rechtsprechung

Márta Pardavi, stellvertretende Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Hungarian Helsinki Committee“, sagt ebenfalls, dass die ungarischen Medien „in seinem sehr schlechten Zustand“ seien. „Die meisten Ungarn haben durch die Berichterstattung den Eindruck, dass die aktuellen Proteste gewaltsam seien und von Soros-finanzierten Migrations-Befürwortern angeführt würden.“ Die Wahrheit werde verzerrt, teils werde auch einfach gelogen. 

Migration ist tatsächlich kein Thema bei den Protesten, die eine neue Dynamik gewonnen haben. Auch am vergangenen Wochenende gingen in Budapest etwa 10.000 Menschen auf die Straße, darunter Vertreter von rechten und linken Oppositionsparteien, von Gewerkschaften und verschiedensten Organisationen . Eine heterogene Gruppe also, die gemeinsam gegen das „Sklavengesetz“, aber auch für freie Medien, freie Wissenschaft, unabhängige Rechtsprechung und gegen Korruption demonstrierte. „Bei den Protesten geht es um fundamentale Forderungen für eine funktionierende Demokratie“, sagt Márta Pardavi.

ungarn

Noch immer wird überall in Ungarn gegen das „Sklavengesetz“ demonstriert – wie hier am vergangenen Freitag in Pecs, einer Stadt 200 Kilometer südlich von Budapest.

Foto: AP / Tamas Soki

„Es gibt eine wachsende Front gegen Orbán“, glaubt auch Adrien. Er wünscht sich, dass  auch die EU strikter gegen den ungarischen Ministerpräsidenten vorgeht. „Bisher haben  andere Regierungschefs in der EU nur gezeigt, dass sie bereit sind, viel zu dulden. Hier muss eine Uni schließen und der Politik ist das anscheinend egal!“

Dass Adrien europäisch denkt, verwundert nicht: Zwar zog er mit acht Jahren nach Kanada, aber neben der kanadischen hat er auch die belgische Staatsangehörigkeit. Geboren wurde er in Brüssel und seit zehn Jahren ist er zurück in Europa. Seitdem hat er unter anderem in Tschechien, Polen, England, Deutschland und Ungarn gelebt. Wenn die Klage nicht doch noch fallen gelassen wird, wird Adrien bald in einem EU-Staat vor Gericht stehen.

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