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Wie es ist, mit einer schweren körperlichen Behinderung zu studieren

Foto: privat; Bearbeitung: jetzt

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Auf die Frage, wo genau das Gespräch mit ihm stattfinden soll, schreibt Julius Baumann auf Whatsapp: „Am besten wäre es bei mir zu Hause.“ In Passau, der Stadt, in der er lebt und studiert, gibt es nur wenige barrierefreie Plätze. Julius sitzt im Rollstuhl, weil er kurz nach seiner Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen hat. Seine Arme und Beine bewegen sich oft ruckartig und schraubenförmig, ohne dass er es beeinflussen kann. Auch beim Sprechen ist er eingeschränkt, es fällt ihm schwer, Wörter verständlich auszudrücken. Wegen seiner Behinderung ist Julius ständig auf Hilfe angewiesen – vor allem die seiner Mutter Frida, die Julius, ihren einzigen Sohn, nie von der Seite weicht. Auch während des Interviews ist sie dabei und wiederholt alles, was Julius sagt. 

Der 27-Jährige lacht viel und ist aufmerksam, fragt während des Interviews nach, ob man ihn versteht und prüft, ob das Aufnahmegerät auch wirklich läuft. Wer mit Julius spricht, merkt schnell, wie viel Selbstironie er hat. Frida versteht Julius wie sonst niemand, sagt sie. Während sie erzählt, spricht die 61-Jährige oft von „wir“, nicht von Julius: „Wir – ähhh, ich meine Julius – hat im Oktober 2018 angefangen zu studieren.“

Julius studiert an der Universität Passau im dritten Semester Journalismus und Strategische Kommunikation. „Ich hätte auch unter der Brücke geschlafen für diesen Studienplatz“, sagt Julius heute. Er war erst an der Universität in Marburg für Politikwissenschaften eingeschrieben und hatte dort nach langem Hin und Her sogar schon ein Zimmer in einer rollstuhlgerechten WG. Dann erfuhr er vom neuen Journalismus-Studiengang in Passau. Seit er acht Jahre alt war, sei es sein Traum, Journalist zu werden, erzählt er. Also sagten Frida und Julius den Studienplatz und die WG in Marburg ab und versuchten ihr Glück in Passau. Nach langer Suche vermittelte die Behindertenbeauftragte der Uni den beiden eine von nur zwei barrierefreien Wohnungen im Wohnheim.

„Das funktioniert alles. Nur halt ein bisschen langsamer als bei anderen“

Die Wohnung ist gemütlich eingerichtet, neben dem Sofa ist Julius’ Elektrorollstuhl geparkt. „Für Außeneinsätze“, sagt er. Über seinem Schreibtisch hängt ein Schal von Borussia Dortmund. Es ist Mitte November, der Montag nach der 4:0 Niederlage des BVB gegen die Bayern. „Das war wie Folter“, sagt er über das Spiel. „Fußball ist schon seit der Schulzeit sein größtes Interesse“, erzählt Frida. Deshalb will Julius später mal als Sportjournalist bei einer Zeitung arbeiten. Ohne Assistenz wird das nicht möglich sein, aber schon im Studium arbeitet Julius an journalistischen Projekten. Kürzlich war er bei einem Ringkampf in der Nähe von Passau und berichtete von dort, erzählt er. Eine Kommilitonin führte die Interviews, die Fragen hatte Julius sich überlegt und schrieb die Antworten später am Computer zusammen. Auf einer normalen Tastatur kann er nicht tippen, daher ist an seinem Computer eine spezielle Tastatur mit besonders großen Tasten angeschlossen. „Das funktioniert alles“, sagt er. „Nur halt ein bisschen langsamer als bei anderen.“

An deutschen Universitäten und Fachhochschulen haben drei Prozent der Studierenden eine Behinderung. Laut der aktuellen Studierenden-Begfragung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung fühlt sich ein Drittel der Studierenden mit Behinderung im Studium teilweise oder stark beeinträchtigt und benötigt Hilfe, dazu gehört Julius. Seine Mutter Frida pflegt ihn und hilft ihm bei der Kommunikation mit Kommiliton*innen und Dozent*innen. Sie sitzt mit ihm in allen Vorlesungen, hilft Julius beim Essen, Trinken und auf der Toilette. Neben Frida, die Julius ständig begleitet, kümmern sich während der Vorlesungen noch zwei Mitarbeiterinnen des Studierendenwerks um Julius. Sie schreiben für ihn mit und helfen ihm beim Lernen. Die beiden Studentinnen werden vom Studierendenwerk dafür bezahlt, eine professionelle Assistenz können sie aber nicht ersetzen. Frida ist daher immer in der Nähe, auf Abruf.

Unterstützung im Studium steht in Deutschland allen Studierenden mit Behinderung zu, das regelt der gesetzliche Nachteilsausgleich. Der sorgt auch dafür, dass niemand unfair bewertet wird. Julius bekommt bei Prüfungen zum Beispiel eine Person als Assistenz für die Klausur, die für ihn seine Antworten einträgt, einen eigenen Raum mit Aufsichtsperson und wegen seiner eingeschränkten Motorik die doppelte Zeit. Bei zulassungsbeschränkten Studiengängen ist in Deutschland ein kleiner Prozentsatz für Menschen reserviert, die zum Beispiel körperlich eingeschränkt sind. Dieser Prozentsatz ist von Studiengang zu Studiengang unterschiedlich. Mithilfe eines Härtefallantrages können sich Menschen wie Julius für diese Plätze bewerben. Sie müssen dafür alle üblichen Voraussetzungen für ein Studium erfüllen, also zum Beispiel die Hochschulreife.

Das Studentenwerk Deutschland hat außerdem festgelegt, dass für Studierende mit Beeinträchtigung bauliche, kommunikative, strukturelle und didaktische Barrieren überwunden werden sollen. Auf dem Campus in Passau kommt Julius in seinem Rollstuhl zu jedem seiner Seminarräume – wenn auch manchmal auf Umwegen. Die größte Barriere, erzählt Julius, sei für ihn die Stadt Passau an sich. Überall gibt es Treppen, schmale, steile Gassen und Kopfsteinpflaster. Die große Sauerei, sagt Julius, sei, dass man das schon von aus rechtlichen Gründen gar nicht besser hinkriegen könnte. Laut der UN-Behindertenkommision müssen eigentlich alle öffentlichen Gebäude barrierefrei sein. Ausgenommen, sie stehen unter Denkmalschutz. Und in Passau tun das die meisten. 

Sich spontan mit Kommiliton*innen zu verabreden, ist für Julius so gut wie unmöglich

„Im Kino habe ich manchmal Glück“, erzählt Julius und lacht. „Da sind die Kinosäle 1, 2 und 3 barrierefrei. Zu den anderen geht es nur über eine Treppe. Wenn der Film, den ich sehen will, in Kino 4, 5 oder 6 läuft, dann habe ich Pech gehabt und muss wieder nach Hause.“ Eine Kommilitonin hatte ihm mal eine Bar empfohlen, in der andere BVB-Fans in Passau die Spiele von Dortmund schauen. Julius ging hin und freute sich, der Eingang war barrierefrei. Dann schaute sich seine Mutter in der Bar um und die beiden mussten wieder nach Hause gehen: Das Klo war im Keller, nur zugänglich über eine enge Wendeltreppe. Sich spontan mit Kommiliton*innen in der Stadt zu verabreden, ist für Julius so gut wie unmöglich.

Die Lebenshilfe hat Julius einen Teilzeitpfleger vermittelt, die beiden sind im gleichen Alter. Sie gehen zusammen in den Schachklub und manchmal sogar auf Partys. „Es ist gut, dass Julius nicht mehr die ganze Zeit mit seiner Mutter rumhängt“, sagt Frida „Der junge Mann von der Lebenshilfe hat gleich gemerkt, dass Julius geistig voll da ist. Und das tut ihm gut.“

So schwierig es trotzdem für ihn ist, am Sozialleben außerhalb seines Studiums teilzuhaben, so gut laufe es für ihn an der Uni, erzählt Julius. Die Leute dort seien nett und offen ihm gegenüber. Mitleidige Kommentare bekomme er selten zu hören. Zum Glück, denn das sei das Letzte, was er brauchen könne. „Ich bin schon mein Leben lang behindert, ich kenne nichts anderes. Selbst wenn ich mich wegen meiner Behinderung umbringen wollte, dann wäre es doch mein Problem!“ „Julius!“, sagt Frida entsetzt und schüttelt den Kopf. „Entschuldigung, das ist sein schwarzer Humor.“ Julius lacht laut.

„Wir funktionieren gut als Team“

Dass die Leute ihn manchmal anstarren, mache ihm nichts aus, sagt Julius. Nur sollten sie dann auch herkommen und mit ihm sprechen, findet er. „Die Mädchen sind immer nett, Jungs haben mehr Berührungsängste mit Julius“, erzählt Frida. Er habe Bekannte in der Uni, sagt Julius, aber keine Freunde. Wegen des Rollstuhls sei es schwer für ihn, sich außerhalb der Vorlesung mit jemandem zu treffen.

Da Frida 24 Stunden am Tag für Julius da sein muss, kann sie nicht arbeiten. Die beiden leben von Sozialhilfe. „Wir haben oft überlegt, ob Julius eine Pflegekraft bekommen sollte“, sagt sie. „Aber das kostet viel Geld und wir funktionieren gut als Team. Und ich studiere jetzt auch Journalismus“, sagt die 61-Jährige und lacht. Was nach dem Studium kommt und ob Julius je ohne Frida leben kann, wissen die beiden nicht. „Wir denken Schritt für Schritt“, sagt Frida. „Jetzt macht er erstmal seinen Bachelor.“

Am Ende des Interviews will Julius genau wissen, welche Darstellungsform dieser Text haben wird: „Porträt? Feature? Reportage?“ Als er die Fotos von ihm und seiner Mutter für den Text anschaut, sagt er, er sei sich sicher, dass die Leser*innenzahlen von jetzt bei diesem Text in die Höhe schnellen werden. „Warum das?“, fragt Frida. „Na, schau dir doch das Bild an. Weil ich so geil aussehe!“

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