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Wie ein Leben ohne Alkohol aussehen könnte

Illustration: Federico Delfrati

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Die Alkolumne handelt vom Trinken. Von den schönen und schlechten Seiten dieses Zeitvertreibs und den kleinen Beobachtungen und Phänomenen an der Bar. Aber egal, worum es grade geht, lieber Leser – bitte immer dran denken: Ist ungesund und kann gefährlich sein, dieser Alkohol.

Alkohol prägt ein Menschenleben. Vom ersten Schluck bis zum letzten schnäpseln. Denn seinen Körper regelmäßig mit Gift zu mästen, hat einen Preis: Müdigkeit, Krankheit, Dummheit, moralische Verwahrlosung. Und wer sich für ein Leben mit Alkohol entscheidet, wird sich deshalb auch immer wieder unvermeidlich fragen: Wie wäre mein Leben ohne Alkohol? Wer wäre ich – so ganz trocken? Eine vergleichende Reise rückwärts durch zwei Lebensentwürfe.

1. Der Lebensabend 

Was hätte können sein, ohne den Suff? Auch dann noch, wenn man einsam und verhutzelt von Jahrzehnten des Trinkens im Jahre 2069 vor dem 2069-Äquivalent eines Fernsehers hockt und ausdruckslos das 2069-Äquivalent von „Die schönsten Eisenbahnrouten Deutschlands“ anstiert, mit einem Vormittags-Cognäckchen in Griffnähe, um die schlaflose Nacht und die schmerzenden Gelenke zu vergessen, wird einen diese Frage quälen. Schlimmer als je zuvor. 

Und tatsächlich ist da, irgendwo zwischen Raum und Zeit, in einem Paralleluniversum der Möglichkeiten ein Parallel-Ich, das nie einen Tropfen angerührt hat. Es steht genau im selben Moment am Bug eines sportlichen Zweimasters. Frischer Wind im silbernen, vollen Haar und auf dem Mund das gütige Lächeln eines Menschen, der noch nie einen Bierschiss hatte. Die wettergegerbte, faltige, aber immer noch kräftige Hand am Vorsteven, die andere um die Hüfte der treuen Lebenspartnerin, mit dem das Alk-Universum-Ich schon vor Jahrzehnten mit krächzender Stimme im Vollsuff Schluss gemacht hat.

Und mit einem wehmütigen Aufstoßen schaut das greise Alk-Ich in das 2069-Äquivalent eines Spiegels und denkt an dieses Leben, das hätte sein können.

2. Die goldenen Jahre 

Zwanzig Jahre werden zurückgespult. Weihnachten. Das alkoholfreie Ich ist im besten Alter. Von allen bewundert und geachtet, aber ohne das Familienoberhaupt spielen zu wollen, sitzt es im Kreise seiner Liebsten und erzählt geistreiche Anekdoten, von erreichten Zielen, von Reisen, von Abenteuern. Es hört aber auch zu und ist aufrichtig interessiert an den Sorgen und Hoffnungen seiner Familie. Es gibt Gänsebraten aus regionaler Freilandaufzucht und Kinderpunsch für Groß und Klein. Man isst früh zu Abend, um am nächsten Tag gut ausgeschlafen einen gemeinsam Winterspaziergang zu machen. Gesegnetes Fest allerseits.

Weihnachten in der Alk-Realität: Beim Abendessen verfällt das Alk-Ich nach einer halben Flasche Sekt in denselben tranigen Monolog wie jedes Jahr, darüber, wie es ja eigentlich zu Höherem bestimmt war, aber aus den und den Gründen nie dazu gekommen sei. Später, beim Digestif, mit boshaft vorgeschobenem Bierranzen, folgen individuelle Kritik an seinen Kindern (aus zweiter Ehe) und zotige Witzchen, die in betretenem Schweigen verebben. Um Mitternacht zwingt das Alk-Ich alle, noch eine Wiederholung von „Der kleine Lord“ anzuschauen. Bei der Szene mit dem kranken Bettlerjungen fängt das Alk-Ich ganz erbärmlich an zu flennen. Sein ältester Sohn murmelt, dass er nächstes Jahr wieder bei Mama feiern wird. Das Alk-Ich will etwas erwidern, kotzt aber stattdessen unwillkürlich in die Krippe. Caspar, Melchior und Balthasar ertrinken in einem Brei aus Glühwein und schlecht zerkauter Discounter-Pute.

3. Junges Familienglück

Das Alkfrei-Ich steht auf einer Bühne. Im Publikum winkt seine Frau mit ihrem gemeinsamen Baby. Sie ist problemlos beim ersten Versuch schwanger geworden, weil die Spermien des Alkfrei-Ichs natürlich in tadellosem Zustand sind. Der Kleinen wurde schon jetzt Hochintelligenz attestiert. Bescheiden nimmt das Alkfrei-Ich einen Preis für „besonders wichtige Berichterstattung aus Krisengebieten“ entgegen. Während sich alle beim anschließenden Stehempfang betrinken, networkt das Alkfrei-Ich noch ein bisschen, bevor das Paar den Tag mit gemeinsamen Oboen-Etüden ausklingen lässt.

Das Alk-Ich trinkt jeden Abend, um mit dem Arbeitsalltag klarzukommen und ist am nächsten Tag wieder zu müde, um Leistung zu bringen. Es ernährt seine kleine Familie mehr schlecht als recht mit halblustigen Texten für Jugendmagazine. Regelmäßig prahlt es angetrunken vor der Babysitterin, dass es an einem Roman schreibt. Aber in Wirklichkeit haben die Exzesse der Studienzeit jeden Rest von Kreativität aus seiner Birne geätzt. Es setzt massiv Speck an, der Arzt warnt vor zu hohem Blutdruck und es weiß nicht, dass der Vater seines Kleinen der Oboenlehrer seiner Frau ist. Eines Morgens wacht es auf und Frau und Kind sind weg. Außer Kopfweh und Selbstekel ist da nur noch die dumpfe Erinnerung an den Vorabend und eine auf ihn zufliegende Flasche Pinot grigio.

4. Pubertät

Das Alkfrei-Ich hat seinen 16. Geburtstag. Alle in der Klasse haben ohne jede Ironie Happy Birthday gesungen, es ist sehr beliebt, Klassenbester – aber trotzdem cool. Das Alkfrei-Ich ist seit drei Jahren mit Mareike aus der Theater-AG zusammen, geht nie feiern und hat so den Kopf frei, um herauszufinden, wer es ist, wer es mal sein will. Während Vivaldis Vier Jahreszeiten laufen, schenkt Mareike ihm zum Geburtstag feierlich seinen ersten Blowjob. Sein für sein Alter prächtig entwickelter und gesunder Körper schimmert im Duftkerzenlicht. Danach fragen sich die beiden mit verliebten Blicken gegenseitig Französisch-Vokabeln für den nächsten Tag ab.

Das Alk-Ich hat sich am Abend vorher auf die Party von Tanja geschlichen, die am gleichen Tag Geburtstag hat, dann stotternd versucht Tanja anzumachen: „Hey Tanja ... wir haben am gleichen Tag Geburtstag ... ähm ... krass, oder ...“ Nicht mal eines „Verpiss dich“ gewürdigt worden. Dann mit Wodka-O in der Ecke gesessen und ein bisschen ins Leere gestarrt. Es hilft nicht wirklich, dass es durch Alkoholkonsum in einer kritischen Entwicklungsphase 4 Zentimeter unter der Körpergröße und 12 IQ-Punkte unter dem Wert des Alkfrei-Ichs geblieben ist. In seinem Abi-Jahrbuch-Eintrag wird unter der Rubrik „Satz über ...“ stehen: Riecht nach Verzweiflung.

5. Der erste Schluck

Noch weiter zurück, in eine Welt aus verwackelten Familienvideos und kindlicher Neugier. Die Wege haben sich noch nicht getrennt. Da ist nur ein einziger kleiner Mensch auf der Eckbank eines süddeutschen Wirtshauses, vielleicht fünf Jahre alt, der verträumt mit Wachsmalstiften ein Malbuch vollkritzelt, das die Kellnerin gebracht hat, zusammen mit den Getränken: „So, dann händ mer ä kloine Apfelschorle und zwei Pils, gell?“ Die Kulleraugen wandern fragend zwischen Mama und Papa hin und her. Warum hat ihre Apfelschorle so einen lustigen Badeschaum oben drauf? Der Papa fängt den neugierigen Blick ein und sagt weltmännisch: „Komm, darfsch abschlotze.“ Er nimmt den kindlichen Zeigefinger und wischt einmal damit durch den fluffigen Zauberschnee oben auf dem Glas. Und hier gabelt sich der Weg:

Das kleine Alk-Ich hält den Finger mit der geheimnisvollen Substanz vors Gesicht und weiß: Es wird nie Nein sagen können. Die Neugier ist zu groß. Es wird sich nie zufrieden geben mit dem Leben, wie es ist. Es steckt den gottverdammten Schaum in den Mund und den ganzen Körper durchzuckt eine Epiphanie. Die Großhirnrinde antizipiert wie in Zeitraffer alle kommenden Momente von glühendem Glück und bodenloser Scham: Hervorragende Witze vor gut aussehenden, lachenden Menschen, Beleidigungen aufs Blut, im Suff gestochene Genitalpiercings, gelallte Liebesgeständnisse, Partyhütchen, Führerscheinentzüge, Gala-Diners, Briefe an den Bundespräsidenten um 5 Uhr morgens, Last-Minute-Flüge nach Budapest, deepe philosophische Gespräche und nachmittags Aufwachen in der U-Bahn im Helden-Deiner-Kindheit-Motto-Party-Kostüm und Meerschweinchenkot im Haar. 

Das Alkfrei-Ich schnuppert an dem bitteren Schaum, zieht dann putzig schmollend das Gesicht zusammen und malt lieber das Malbuch fertig aus. Was für ein langweiliges Arschloch.

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