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Der Christopher Street Day muss wieder politisch werden

Foto: dpa/Julian Stähle

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Wer dieses Jahr einen der 75 (!) deutschen CSDs besucht, muss nicht extra auf die fröhlich mitfeiernden Polizisten schauen, um zu merken: Mit den gewaltsamen Stonewall-Unruhen von 1969 haben die Paraden schon lange nichts mehr zu tun. Und das ist grundsätzlich erst mal eine verdammt gute Nachricht.

2019 drückt sich Gay Pride in knallig-schrillen Volksfesten aus, inklusive Imbissbuden, Partytrucks und Bungee-Jumping. Statt wütender Parolen donnert laute Musik durch die Straßen und anstelle von Steinen fliegen bunt verpackte Kondome durch die Luft. Party statt Protest. Den gibt es bei den meisten Paraden nur noch am Rande, auf Pappschildern zum Beispiel, die irgendjemand tapfer in die Höhe hält, und vielleicht noch ein bisschen bei der Abschlusskundgebung. Nur bekommt davon kaum jemand was mit, weil die Botschaft untergeht in einem Meer aus Alcopops, Musik, nackter Haut und Kommerz.

Ich weiß, dass es wahrscheinlich genau diese Mischung war, die beim CSD in Berlin mal wieder für einen neuen Besucherrekord gesorgt hat. Doch ich frage mich trotzdem, ob wir als queere Community wirklich nichts Wichtigeres mehr zu sagen haben, als dass man mit uns gut feiern kann. Denn das wäre nicht nur schade. Sondern auch gefährlich. 

„Was ist uns wichtiger: Politik oder Party?“

Dass die Pride zu kommerziell und unpolitisch sei, ist jetzt als Vorwurf nicht neu. Er hat sich aber selten krasser bestätigt als in diesem Jahr. Denn ausgerechnet zum 50. Jubiläum der Stonewall-Unruhen hatte der Berliner CSD-Verein beschlossen, sich das völlig nichtssagende Motto „Queer sind Berlin – Jemeinsam" zu geben. Dagegen regte sich immerhin so viel Protest, dass es später doch noch in „Stonewall 50 - Jeder Aufstand beginnt mit deiner Stimme“ geändert wurde.  Ein treffendes Beispiel, weil es gleichzeitig zeigt, dass innerhalb der Community große Uneinigkeit herrscht, was uns wichtiger sein sollte: Politik oder Party?

Demonstrieren muss auch Spaß machen dürfen, sagen die einen. Und aus Angst, nach Einführung der Ehe für Alle könnte der CSD seine Berechtigung verlieren, zählen sie im gleichen Atemzug auf, warum es auch heute noch so wichtig ist, für unsere Rechte auf die Straße zu gehen: In Istanbul schlägt die Polizei auf queere Demonstranten ein, in Russland wurde vor Kurzem eine bekannte Aktivistin ermordet und auch in Berlin ist die Anzahl homophober Übergriffe im letzten Jahr – mal wieder – deutlich gestiegen.

Demonstrieren muss auch Spaß machen dürfen? Ganz ehrlich: Wenn ich solche Nachrichten lese, werde ich traurig und vor allem sehr, sehr wütend. Ich bekomme aber sicher nicht das Bedürfnis, mir ein Netzhemd anzuziehen und zu Technobeats über den Ku'Damm zu tanzen. Denn selbst die Ehe für Alle ist nur halb so schön, wenn man in der U-Bahn zum Standesamt eins auf die Fresse kriegt. Also, natürlich ist es nach wie vor wichtig, für unsere Rechte auf die Straße zu gehen. Aber muss das aussehen wie eine Mischung aus Schlagermove und Sonntagmorgen im Club?

In Ländern wie Polen ist die Parade an sich schon ein politisches Statement. Dort kostet es immer noch eine Menge Mut, überhaupt loszumarschieren, weil man vorher nicht wissen kann, ob einem unterwegs ein paar Hooligans auflauern. In Westeuropa ist das nicht mehr der Fall, und darüber können wir froh sein. Das bringt aber auch eine Verantwortung mit sich, nicht nur denen gegenüber, die uns das in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben. Sondern auch für die, die nach uns kommen. Denn der Tag, an dem niemand mehr Angst vor dem Coming-Out haben muss, ist immer noch verdammt weit weg. Und wenn man auf die aktuellen Wahlumfragen in Ostdeutschland blickt, erscheint es plötzlich schon schwer genug, wenigstens den aktuellen Stand zu halten.

„Man wird selten ernst genommen, wenn man gerade dabei ist, die Sau raus zu lassen“

Deshalb müssen wir uns dringend klar werden darüber, was uns der CSD bedeutet: Nutzen wir diesen Tag, um für Akzeptanz und echte Gleichberechtigung zu kämpfen, oder wollen wir einfach mal trotzig uns selbst und unsere Art, zu leben, feiern? Geht doch beides, sagen viele. Geht eben nicht beides, finde ich. Denn man wird selten ernst genommen, wenn man gerade dabei ist, die Sau raus zu lassen.

Wir sollten den Christopher Street Day wieder so gestalten, dass er den Titel ‚Demonstration‘ auch verdient. Als wütenden Protestmarsch angesichts der immer noch schwierigen Lage vieler LGBTI*-Menschen in Deutschland und vielmehr noch im Rest der Welt. Oder wir marschieren nicht laut, sondern ganz still und eisern schweigend, um allen zu zeigen, wie trostlos es wäre, wenn alles Queere aus der Öffentlichkeit verschwände. 50 Jahre nach Stonewall wäre ein guter Zeitpunkt dafür gewesen. Aber das nächste Jahr bietet eine neue Gelegenheit.

Kann schon sein, dass eine echte Demonstration ohne all das Bunte und Schrille weniger Menschen anzieht. Aber Besucherrekorde sind noch kein Wert an sich, wenn die meisten Leute gar nicht mehr wissen, worum es eigentlich gehen sollte. Und es ist zwar schön, dass unter den Zuschauern zuletzt auch immer mehr Heteros waren, sogenannte Allies. Wie das Wort schon sagt, sind das aber nur diejenigen, die sowieso kein Problem mit uns haben. Die anderen, die uns das Recht zu heiraten und das dritte Geschlecht wieder wegnehmen oder uns noch Schlimmeres antun wollen, erreichen wir mit den CSDs sowieso nicht. Stattdessen sehen die sich in ihren Vorurteilen wahrscheinlich noch bestätigt, wenn sie bei den Bildern im Fernsehen nicht schnell genug wegschalten.

„Sollen wir uns darüber freuen, dass man unseren Kampf für Akzeptanz ,lustig‘ findet?“

Auch von meinen Hetero-Freunden waren dieses Jahr wieder viele in Berlin dabei. Warum? „Ist doch immer lustig, sich das anzugucken“, war mit Abstand die häufigste Antwort, die ich auf meine Frage bekommen habe. Und sie haben ja recht. Aber sollen wir uns wirklich darüber freuen, dass man uns und unseren Kampf für Akzeptanz in erster Linie „lustig“ findet?

Dass ich nicht der einzige bin, der mit dem CSD in seiner jetzigen Form Probleme hat, zeigt sich auch daran, dass es in Berlin in diesem Jahr gleich drei Pride-Paraden gab. Von den beiden deutlich politischer ausgerichteten hat aber kaum jemand was mitbekommen. Und ich bin Realist genug, um zu wissen, dass sich die großen CSDs wohl nicht grundlegend ändern werden, schon alleine, weil da inzwischen viel zu viele kommerzielle Interessen dranhängen. Im Zweifelsfall würden aber schon kleine Schritte reichen, um wenigstens wieder ein bisschen relevanter zu werden.

Warum zum Beispiel führen die Paraden nicht durch genau die Stadtviertel, in denen man sonst besser nicht öffentlich zeigt, dass man queer ist? Das wäre ein Statement. Genauso wie der Berliner CSD von 2012, der an der russischen Botschaft vorbeizog. Das sollte regelmäßig der Fall sein, weil man damit ein politisches Zeichen setzt, selbst wenn der Umzug an sich „nur" aus Party besteht. Bis zur Botschaft von Brunei ist es dann übrigens auch nicht mehr weit.

Ansonsten ist es mit der Pride ein bisschen wie mit dem Geist der Weihnacht: Es kommt gar nicht so sehr auf den einen Tag an, sondern auf das, was man den Rest des Jahres macht. Deshalb kann ich jedem, der wirklich was bewegen möchte, nur raten, sich einem der vielen sinnvollen Projekte im ganzen Land anzuschließen. Zum Beispiel denen in deutschen Klassenzimmer. Im direkten Gespräch mit Schülern sämtlicher Schularten versuchen Vertreter der Community dort, Vorurteile zu hinterfragen und Vorbehalte gegenüber LGBTI*-Menschen abzubauen. Das ist natürlich mühsamer, als sich einmal im Jahr die neuesten Pride-Sneaker zu bestellen und damit den Paradewagen der Deutschen Bank zu besteigen. Aber es bringt auch so viel mehr.

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