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„Vielen ist gar nicht bewusst, was sie täglich leisten“

Foto: EAF Berlin

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Kochen und putzen, das Kind zur Kita oder ins Bett bringen, dem kranken Vater helfen oder einen Spielenachmittag in einer Unterkunft für Geflüchtete organisieren: alles Tätigkeiten, die dafür sorgen, dass wir als Familien und als Gesellschaft funktionieren. Bezahlt werden sie meistens nicht. Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hat ergeben, dass weltweit 16,4 Milliarden Stunden dieser unbezahlten „Sorgearbeit“ geleistet werden – pro Tag. Auffällig ist dabei der Unterschied zwischen den Geschlechtern: Laut ILO werden 76,2 Prozent der weltweiten unbezahlten Sorgearbeit von Frauen erledigt. Auch die bezahlte Sorgearbeit, also Jobs wie Altenpfleger*in oder Erzieher*in, werden hauptsächlich von Frauen ausgeübt.

Um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, findet am 29. Februar der bundesweite „Equal Care Day“ (ECD) statt, initiiert vom Verein klische*esc e.V. Hanna Völkle, 28, ist eine der Referentinnen des ECD. Die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin arbeitet für die „Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft“, eine NGO, die sich für Vielfalt in Führungspositionen einsetzt. Nebenher bereitet sie ihre Promotion zum Zusammenhang von Sorgearbeit und ökologischer Nachhaltigkeit vor. Wir haben mit ihr über die Gründe für den „Gender Care Gap“ und mögliche Lösungen gesprochen.

jetzt: Hanna, wie definierst du „Sorgearbeit“?

Hanna Völkle: Unter dem Begriff können eigentlich alle Aufgaben zusammengefasst werden, die Menschen für sich oder für andere und die Gemeinschaft leisten: Kinder zur Welt bringen und erziehen, Angehörige pflegen, sich zivilgesellschaftlich oder politisch engagieren. Ich mag an dem Begriff, dass er deutlich macht, dass diese Tätigkeiten nicht nur aus Liebe zueinander verrichtet werden, sondern dass sie auch tägliche harte Arbeit sind. Er macht unsichtbare Arbeit sichtbar.

Wie unterscheidest du zwischen sichtbarer und unsichtbarer Arbeit?

In unserer Gesellschaft hat jene Arbeit einen Wert, die bezahlt wird und dadurch ins Bruttosozialprodukt einfließt. Wenn ich für etwas einen Preis definieren kann, ist es sichtbar, alles andere steht im Schatten. Welchen Preis müssten wir zum Beispiel fürs Vorlesen am Kinderbett ansetzen? Wir tun uns als Gesellschaft schwer, dem einen Wert beizumessen, weil wir es nicht zählen können.

Eine aktuelle Studie hat ergeben, dass weltweit mehr als 72 Prozent der unbezahlten Sorgearbeit von Frauen erledigt wird. In Deutschland arbeiten Frauen täglich fast 90 unbezahlte Minuten mehr als Männer. Warum ist die Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern so ungleich verteilt?

Das hat viel mit unserer Sozialisation zu tun: Es wird immer noch davon ausgegangen, dass es eine „weibliche Eigenschaft“ ist, sich zu sorgen, Für-, Ver- und Vorsorge zu leisten. Mädchen werden so erzogen, sie haben die eigene Mutter als Vorbild und so weiter. Als Erwachsene wird es dann von ihnen erwartet oder sie haben entsprechende Erwartungen an sich selbst oder trauen sich nur bestimmte Tätigkeiten zu. Die ungleiche Verteilung hängt aber auch eng mit dem zusammen, was wir eben besprochen haben, also damit, welchen Tätigkeiten ein „Wert“ beigemessen wird. 

Inwiefern?

Wirtschaft und wirtschaftlich produktives Handeln ist männlich dominiert. Im Masterstudium hatte ich eine kluge Professorin, die gesagt hat: „Was ins Bruttoinlandsprodukt zählt und was nicht, das haben sich irgendwann mal alte, weiße Männer ausgedacht.“ Vielleicht hatten sie dabei nichts Böses im Sinn – aber sie konnten sicher nicht alle Lebenswirklichkeiten und Perspektiven einnehmen, die es in einer Gesellschaft gibt, und haben darum aus ihrer Perspektive heraus definiert, was eine wertvolle produktive Tätigkeit ist und was nicht.

„Im Zweifelsfall sind wir alle irgendwann mal auf Menschen angewiesen, die sich uns zuwenden“

Darum galt dann die Arbeit, die traditionell von Frauen verrichtet wurde – Haushalt, Kindererziehung und so weiter – als nicht produktiv.

Genau. Und heute ist das noch ähnlich: Wenn man sich 2020 in wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen setzt, wird man immer noch was vom Homo Oeconomicus hören, also dem idealtypischen Mensch, der wirtschaftlich handelt. Der kennt keine Vergangenheit, keine Zukunft und entscheidet in jeder Situation danach, wie sie ihm am meisten Nutzen bringt. Er hat auch verdrängt, dass er mal ein Kind und auf die Zuwendung anderer Menschen angewiesen war, und er blendet aus, dass er irgendwann alt und krank sein wird. Um wieder fit für die Arbeit am nächsten Tag zu sein, braucht er nur seinen Schlaf – wer ihm sein Essen zubereitet oder die Wohnung sauber hält, interessiert ihn nicht. Wenn man das so runterbricht, klingt es aberwitzig, aber es ist tatsächlich häufig noch der Maßstab, nach dem gewirtschaftet wird. Dabei sind wir im Zweifelsfall alle irgendwann mal auf Menschen angewiesen, die sich uns zuwenden, auch, wenn sie dafür kein Geld bekommen.

Eine Lösung für das Problem ist, Menschen für Sorgetätigkeiten zu bezahlen, zumindest für die Pflege im Alter und bei Krankheit. Mehrere Bundesministerien haben dafür vergangenes Jahr die „Konzertierte Aktion Pflege“ angekündigt. 

Das Gesundheitsministerium hat gemeinsam mit anderen Ministerien einen guten Weg eingeschlagen, denn so wird Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Aber der kann nicht die einzige Lösung sein, denn es sollen ja zum Beispiel auch mehr Pflegekräfte aus dem Ausland angeworben werden – aber was ist dann mit den Kindern oder den Angehörigen dieser Pflegekräfte? Uns muss bewusst sein, dass Sorgearbeit weltweit geleistet werden muss, nicht nur bei uns. 

Der „Gender Care Gap“ in der unbezahlten Sorgearbeit hängt auch mit der bezahlten Sorgearbeit zusammen, oder?

Ja, Pflegekräfte, Erzieher*innenen oder Grundschullehrer*innen sind oft unterbezahlt – und gleichzeitig sind es „feminisierte“ Berufe, das heißt, der Anteil der Frauen ist hoch. Unter anderem darum verdienen Frauen im Schnitt 21 Prozent weniger als Männer. Dieser „Gender Pay Gap“ trägt generell mit dazu bei, dass in heterosexuellen Partnerschaften Frauen öfter eine Teilzeitstelle annehmen oder länger Elternzeit nehmen als Männer, weil es sich finanziell so rum mehr lohnt. Der „Gender Care Gap“ hängt auch stark vom Alter und der Lebenssituation ab: In der Zeit, in der sich die meisten Frauen entscheiden, eine Familie zu gründen, also etwa zwischen 30 und 35, wird die Lücke größer.

„Steuervorteile wie das Ehegattensplitting, die das Familienernäher-Modell fördern, sollten abgeschafft werden“

 

Wie könnte man das ändern?

Sorgearbeit lässt sich nicht wegdiskutieren, sie wird immer anfallen, und in einem gemeinsamen Haushalt kann man sich verschiedene Gedanken dazu machen: Soll die Person die meiste Sorgearbeit leisten, die weniger Geld verdient? Oder die Person, die am meisten Freude daran hat? Als Paar kann man entscheiden, es individuell anders zu machen als die Mehrheit – aber das geht nur, wenn einem die 300 Euro, die man dadurch verliert, am Ende des Monats nicht fehlen.

Damit gerechte Verteilung kein Luxus ist, muss sich also strukturell etwas ändern. Welche politischen Maßnahmen wären sinnvoll?

Im zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung wurde das „Erwerb-und- Sorgemodell“ vorgestellt, das es Frauen und Männern möglichen machen soll, zu gleichen Teilen Erwerbs- und Sorgearbeit zu leisten – zum Beispiel, indem beide täglich nur sechs Stunden mit Lohnarbeit verbringen. Diesen Vorschlag könnten die politischen Akteur*innen ja einfach mal ernst nehmen und versuchen, ihn umzusetzen. Steuervorteile wie das Ehegattensplitting, die das Familienernäher-Modell fördern, sollten abgeschafft werden. Es müssten Mittel bereitgestellt werden, damit mehr Daten zur Sorgearbeit erhoben werden können. Und: Man müsste das Thema politisch anders framen.

Inwiefern? 

Indem man deutlich macht, dass es kein „Frauenthema“ ist. 2018 habe ich einen Politiker auf einer Bühne sagen hören: „Für Genderfragen haben wir das Frauenministerium.“ Das ist erschreckend. Denn es geht nicht nur darum, dass wir Frauen entlasten, sondern Sorgearbeit muss sichtbar werden und einen Wert bekommen.

Was können Unternehmen tun, um die Situation zu verbessern?

Modelle schaffen, mit denen sich Karriere und Sorgearbeit vereinbaren lassen – und dann die Vorbilder sichtbar machen. Es gibt ja auch ein paar Unternehmen, die schon mit der Vier-Tage-Woche experimentieren. Aber eigentlich muss man die Tagesarbeitszeit verringern, nicht die Wochenarbeitszeit, weil Sorgearbeit ja nicht nur Mittwoch bis Freitag anfällt. Eine besonders radikale, aber interessante Idee zur Verteilung unserer Zeit hatte übrigens die Soziologin Frigga Haug.

„Wir dürfen nicht einfach sagen: Die Frauen sind Schuld, weil sie schlecht verhandeln“

Und zwar?

Die „Vier-in-eins-Pespektive“. Haug geht davon aus, dass wir täglich acht Stunden Schlaf brauchen, es bleiben 16 Stunden, die wir in vier gleiche Teile aufteilen könnten: vier Stunden Lohnarbeit, vier Stunden Sorgearbeit, vier Stunden Müßiggang und Kreativität und vier Stunden zivilgesellschaftliches und politisches Engagement. Haug glaubt, so stünde unsere Gesellschaft insgesamt besser da. 

Was erhoffst du dir vom „Equal Care Day“?

Dass er die Sichtbarkeit für das Thema erhöht. Ich glaube, sich einzuschwören und nicht müde zu werden, dass das Thema Sorgearbeit mit den gesellschaftspolitischen Diskurs gehört, ist wichtig. Vielleicht fragt sich auch nochmal jede*r einzelne von uns, was wir eigentlich täglich für unsere Mitmenschen und uns selbst leisten, damit es allen gut geht. Und vor allem dürfen wir nicht einfach sagen: Die Frauen sind Schuld, weil sie schlecht verhandeln. Damit würden wir allen Unrecht tun, die schon vor uns für mehr Gleichberechtigung gekämpft haben.

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