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Die Corona-Krise belastet psychisch Kranke besonders

Illustration: FDE

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„Es gab Tage während der Corona- Zeit, an denen ich kurz vor der Verzweiflung stand. Die Einsamkeit zerrt an meinen Nerven“, schreibt Laura gegenüber jetzt in einer Messenger-Nachricht. Eigentlich war ein Telefonat verabredet. Aber Laura hat es kurzfristig abgesagt. Es gehe ihr zu schlecht, schreibt sie. Die Ängste seien vergangene Nacht schlimmer geworden. Sie befürchtet, dass ein persönliches Gespräch über ihre Situation zu emotional werden könnte.

Laura ist 31 Jahre alt und heißt eigentlich anders. Ihren echten Namen will sie hier nicht lesen, denn ihr Umfeld soll nicht in einem Artikel über ihre Gefühle, ihren Gesundheitszustand erfahren. Laura arbeitet als pädagogische Hilfskraft im Schichtdienst und lebt alleine. Seit ihrer Kindheit leidet sie an wiederkehrenden Depressionen. „An meinen freien Tagen fühle ich mich jetzt oft total einsam, leer und überfordert“, schreibt sie. Ausgleiche wie der wöchentliche Saunabesuch fallen weg. Ihre Eltern hat sie in den vergangenen Monaten nur zweimal gesehen. Manchmal vergehen zwei Tage, an denen sie mit niemandem spricht. Damit die Zeit schneller rumgeht und sie nicht so viel nachdenken muss, schläft Laura gerade sehr viel.

Für die therapeutische Behandlung von Leon ist das Coronavirus eine Katastrophe, sagt Petra

Auch für die 24-jährige Petra und ihren psychisch kranken Sohn Leon ist die Situation nicht einfach: Durch Corona fällt für sie die therapeutische Unterstützung weg. „Ich habe ewig für den Therapieplatz meines Sohnes gekämpft und als ich ihn endlich bekam, hieß es nach der ersten Sitzung, dass er nicht mehr hin darf“, sagt Petra. Tagsüber ist sie alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Kindern, nachts lernt sie für ihre Ausbildung. „Da meine Kinder im Hintergrund brüllen, ist es nicht mal möglich, fünf Minuten mit meiner Ausbilderin zu sprechen, ohne dass mein psychisch kranker Sohn die Vorhänge runterreißt“, berichtet sie.

Ihr älterer Sohn Leon ist sieben Jahre alt. Bei Leon wurde eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert. Er ist oft aggressiv und versteht nicht, warum er andere Kinder nicht hauen und Dinge nicht zerstören darf. Wegen der Pandemie kann er im Moment nicht in die sonderpädagogische Schule gehen und seine gerade begonnene Psychotherapie an einer Uniklinik wurde auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Auch die Ergotherapie fällt aus. Einen Ersatz haben sie nicht angeboten bekommen. Für die therapeutische Behandlung von Leon ist das Coronavirus eine Katastrophe, sagt Petra.

Menschen mit psychischen Problemen und deren Angehörige leiden besonders unter der Corona- Krise. Das weiß auch die Psychologin und angehende Psychotherapeutin Anneke Mahler. Denn diese Menschen verfügen über weniger Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten, um mit den Herausforderungen der Krise umzugehen. Hinzu kommt eine höhere Belastung. „Wir sind alle mit Unsicherheit, einem Gefühl der Kontrolllosigkeit und vielleicht existenziellen Sorgen konfrontiert. Das ist für jeden schwer, damit umzugehen. Bei Menschen mit psychischen Problemen kommt noch hinzu, dass sich an diese Themen Unbewältigtes aus der Vergangenheit drankoppeln kann“, erklärt Mahler. Viele ihrer Patientinnen und Patienten leiden gerade unter dem Verlust von Selbstbestimmung und Freiheit, fehlenden sozialen Kontakten und darunter, dass sie keine Tagesstruktur mehr haben oder Hobbys wegfallen, die sie sonst psychisch stabilisieren. 

Durch die schrittweise Lockerung der Beschränkungen glaubt Anneke Mahler, dass ihre Patientinnen und Patienten das Gefühl von Kontrolle und Selbstbestimmung zunehmend zurückbekommen. Gleichzeitig blieben Angst und Ungewissheit, da viele Menschen nicht darauf vertrauen würden, dass damit bald alles vorbei sei. Man werde trotz der Lockerungen noch lange mit den psychischen Folgen der Krise zu tun haben, so Mahler.

Doch wie wirkt sich die Pandemie auf die Therapie psychisch Kranker aus? In einigen Unikliniken wurden psychotherapeutische Ambulanzen wegen Corona geschlossen. In Hilfseinrichtungen fallen Betroffenengruppen und Gruppentherapien aus, was problematisch ist, da diese oft als Stütze und Übergangslösung für Menschen dienen, die auf einen Therapieplatz warten.

Auch psychiatrische Krankenhäuser sind betroffen: „Wir mussten alle planbaren Eingriffe absagen. Das war eine Vorgabe der Bundesregierung und von der Stadtregierung. Jetzt machen wir nur noch eine Notfallversorgung“, sagt Peter Brieger, der ärztliche Direktor des Isar- Amper Klinikums in München. Außerdem herrscht ein generelles Ausgangs- und Besuchsverbot, um die Patientinnen und Patienten zu schützen.

Psychotherapie soll jetzt über Video und Telefon funktionieren

Die Therapeutin und Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, Beate Leinberger, sagt, dass der Fall von Petras Sohn Leon unter Umständen ein Einzelfall sei. Denn der Zugang zu einer Psychotherapie gilt als systemrelevant. Das bedeutet, dass jeder Patient oder jede Patientin weiterhin die Möglichkeit haben sollte, Therapie zu erhalten. Das sollte also eigentlich auch für Leon gelten. Sein Fall zeigt aber, dass sich Verordnungen der Bundesregierung in der Praxis nicht immer umsetzen lassen. 

In der Uniklinik von Regensburg, wo Frau Leinberger als Therapeutin tätig ist, wurden wegen des Coronavirus ebenfalls die Ambulanzen sowie die psychosomatische Station geschlossen. Seitdem versuchen die Therapeutinnen und Therapeuten, über andere Wege Kontakt zu ihren Patientinnen und Patienten zu halten. Eine Möglichkeit dafür ist die Videosprechstunde. Denn aufgrund der Corona-Pandemie setzen die Krankenkassen zurzeit die Beschränkungsregelungen für Videosprechstunden aus. So können alle Patientinnen und Patienten über Video behandelt werden, ohne dabei einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt zu sein. Damit der Datenschutz gewährleistet ist, benutzen die Therapeutinnen und Therapeuten nicht etwa Anbieter wie Skype, sondern Onlineplattformen, die vom Gesundheitsministerium freigegeben sind.  

Es gibt aber auch Menschen, für die eine Videosprechstunde nicht möglich ist. Das sind zum Beispiel Alte, die nicht über einen Computer verfügen oder diesen nicht bedienen können. In solchen Fällen können die Therapeutinnen und Therapeuten auf das Telefon zurückgreifen. Ein anderes Beispiel sind Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen, die keinen Computer oder keine Privatsphäre Zuhause haben. Solche Patienten behandelt Leinberger unter der Einhaltung von Hygienemaßnahmen weiterhin in ihrer Praxis. Denn jedem Psychotherapeuten ist es freigestellt, ob er in der eigenen Praxis weiterhin Patienten empfängt.

„Psychische Krankheiten koppeln sich häufig an körperliche Erkrankungen“

Anneke Mahler arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin in Ausbildung für Erwachsene. Obwohl sie lieber direkten Kontakt zu ihren Patienten hat, entschied sie sich für die Videosprechstunde: „Psychische Krankheiten koppeln sich häufig an körperliche Erkrankungen. Deshalb gehören viele meiner Patienten zu der Risikogruppe und müssen besonders geschützt werden“, sagt sie. Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Sie muss sich selbst schützen. Denn würde sie sich anstecken oder müsste sie in Quarantäne, dürfte sie nach den Regelungen der kassenärztlichen Bundesvereinigung von Zuhause aus keine Videosprechstunde mehr durchführen.

Mahler findet, dass die Videosprechstunde für Patientinnen und Patienten, die schon länger bei einem Therapeuten oder einer Therapeutin in Behandlung sind und diesen oder diese gut kennen, eine gute Möglichkeit ist, die Therapie fortzuführen. Für Menschen, die eine Therapie beginnen wollen, sieht sie Schwierigkeiten, da Therapeutin und Patient oft noch kein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Das ist besonders für Menschen problematisch, die Schwierigkeiten damit haben, anderen zu vertrauen, wie zum Beispiel Menschen mit Traumatisierung. Auch für die Therapeutinnen und Therapeuten ist die Videosprechstunde eine Herausforderung. Mahler schätzt diese als Ersatzlösung, aber sie sagt, dass sie ein besseres Gefühl für einen Patienten entwickelt, wenn sie mit ihm in einem Raum sitzt. 

Bei anderen wiederum tragen die Corona-Einschränkungen zur Erholung bei. Etwa bei Yvonne, die im echten Leben anders heißt. Die 29-Jährige hat ihre langen blonden Haare zu einem Zopf gebunden und trägt eine blau-weiße Bluse. Sie sagt, sie genieße die viele freie Zeit auf dem Land, mit ihrer Familie und den Tieren. Denn sie muss sich von einer schweren Zeit erholen: Von Leistungsdruck und Mobbing am Arbeitsplatz und einem Chef, der ihr nach ihrer Kündigung einen Privatdetektiv auf den Hals hetzte. Auf diese Erlebnisse folgten ein psychischer Zusammenbruch und eine schwere Erschöpfung. Sie begann, unter Schlafstörungen und Panikattacken zu leiden. Alles war ihr auf einmal zu viel. Ihre Psychotherapeutin diagnostizierte ein chronisches Erschöpfungssyndrom sowie eine Anpassungs- und Belastungsstörung.  

Yvonne sagt, dass die Corona-Auszeit sie nun dazu zwinge, einen Gang runterzuschalten und sich zu erholen. Das tue ihr gut. Aber sie mache sich immer zu viele Gedanken und manchmal überkomme sie so ein Weltschmerz und Angst, weil niemand weiß wie lange das Ganze noch anhalten wird oder ob es je wieder so wird wie zuvor. Yvonne ist schon seit einigen Jahren in therapeutischer Behandlung. Seit Beginn der Corona- Pandemie stellte ihre Therapeutin auf Videosprechstunden um. Einmal die Woche treffen sie sich online. Yvonne ist froh über diese Möglichkeit. Aber sie hat festgestellt, dass sie in der Praxis viel mehr weine, viel besser loslassen könne als in den Videositzungen. Dasselbe wie in der Praxis, in diesem privaten und geschützten Raum, ist es über Video eben doch nicht, sagt sie.

Hält die Belastung an, wird es wahrscheinlich mehr Menschen geben, die Hilfe brauchen

„Im Moment sehen wir eine erhöhte Grundbelastung aber keinen sehr starken Anstieg an Patientenanfragen“, sagt Peter Brieger, der Direktor des Isar-Amper-Klinikums. Das liege daran, dass viele Menschen den Gang in das Krankenhaus verschieben, weil sie Angst hätten, sich dort anzustecken oder weil sie gerade zu sehr belastet seien, um sich mit ihren psychischen Problemen auseinanderzusetzen. Der Bedarf werde erst richtig ansteigen, wenn die akute Krise vorbei ist und die Langzeitfolgen von Arbeitsplatzverlust und chronischem Stress sichtbar werden. Wenn die Belastungen durch das Coronavirus noch lange andauern, könne es zu einem Anstieg von Depressions-, Angst- und Suchterkrankungen kommen, so Brieger. 

Während sie im psychiatrischen Krankenhaus durch die Pandemie noch keine starke Zunahme der Patientenzahl bemerken, erhält Anneke Mahler in der psychotherapeutischen Praxis jetzt schon mehr Anfragen. Zum einen von neuen Patientinnen, zum anderen von Patienten, die ihre Therapie eigentlich schon abgeschlossen hatten.

Für Menschen wie Laura, die unter ihrer Depression leidet, ist das keine gute Nachricht. Laura sucht schon seit zwei Jahren nach einem Therapieplatz. Sie schreibt: „Einerseits kostet mich die Suche viel Kraft und ich scheitere oft, andererseits weiß ich, dass ich wieder einen brauche.“ Laura hat Angst, dass die Suche durch die Corona-Krise noch schwerer wird und sie noch länger auf Hilfe warten muss. Hilfe, die sich jetzt dringend braucht.

Die Krise ist wie ein Vergrößerungsglas unter dem bestehende Probleme sichtbarer werden

In einem sind sich die drei Experten einig: Die Corona-Krise kann psychische Probleme vergrößern. Gefährdet sind besonders Kinder, weil bei ihnen alle Alltags- und Sozialstrukturen wegfallen und die häusliche Gewalt zunimmt. Menschen mit psychischen Erkrankungen. Einsame Menschen oder jene, die Verluste erlebt haben. Zudem Menschen, die unter prekären Bedingungen leben, wie Geflüchtete oder Obdachlose.

„Mir kommt es vor, als wäre die Krise wie ein Brennglas, das unser gesellschaftliches System und dessen Probleme sichtbarer werden lässt. Wenn wir jetzt anfangen, das System zu hinterfragen, könnte das ein großer Schutz gegen psychische Probleme sein”, sagt Mahler. 

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