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Kann man mit HIV Sex ohne Kondom haben?

Foto: John Schnobrich / Unsplash / Illustration: jetzt

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Wenn Felix (Name von der Redaktion geändert) feiern geht, ist HIV für ihn kein Thema. Er schluckt einfach ein wenig früher als üblich die große, ovale Pille, die ihn gesund hält. Dann kann die Partynacht beginnen. Bei einem Kumpel vorglühen, in den Club gehen, Augustiner bestellen. Im Club dröhnen 90er-Hits aus den Lautsprechern, er tanzt. „Oft endet der Abend mit einem Mädchen im Arm“, erzählt Felix am Telefon. „Wir reden über alles Mögliche – aber nie über HIV.“

Felix ist seit seiner Geburt HIV-positiv. Bei One-Night-Stands verschweigt er seine Infektion. Ist das unverantwortlich? 

Annette Haberl sagt: „Hinsichtlich einer HIV-Übertragung: Nein.“ Sie ist Leiterin des Bereichs „HIV und Frauen“ am HIV-Center des Universitätsklinikums Frankfurt am Main. „Eine moderne antiretrovirale Therapie (ART) senkt die Virusmenge im Blut so stark, dass eine Übertragung nicht mehr möglich ist“, sagt sie. Das HI-Virus verschwinde zwar nicht komplett aus dem Körper, aber die Medikamente verhinderten, dass es sich weiter vermehren kann. Nehme Felix seine Medikamente regelmäßig, fänden sich bei den alle drei Monate stattfindenden Blutuntersuchungen nur noch so wenige Viruskopien in seinem Blut, dass das Virus nicht mehr nachweisbar sei. „Wenn bei Patienten die Viruslast dauerhaft unter der Nachweisgrenze liegt, können sie das Virus nicht mehr übertragen – auch nicht beim Sex ohne Kondom“, sagt sie. 

„Wenn erfolgreich therapierte Menschen ohne Kondom Sex haben, ist das also kein ‚ungeschützter Sex‘“, sagt Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Den Schutz geben die Medikamente. Das ist auch bei der rechtlichen Beurteilung der Situation wichtig. Denn wer von seiner HIV-Diagnose weiß, ist verpflichtet, für den Schutz des Partners oder der Partnerin zu sorgen. Dies kann durch ein Kondom geschehen. „Aber auch eine erfolgreiche Therapie wird von Gerichten als Schutz anerkannt“, sagt Wicht. Seit vielen Jahren sei niemand mehr trotz erfolgreicher Therapie verurteilt worden.

Mit seiner festen Freundin hatte Felix auch Sex ohne Kondom

Hat Felix Gewissensbisse, wenn er seinen Partnerinnen verschweigt, dass er HIV-positiv ist? „Nein“, sagt er. „Hätte ich natürlich, wenn ich sie dadurch in Gefahr bringen würde.“ Aber die Therapie sei sicher, die Wissenschaft eindeutig. „Warum sollte ich eine schöne Nacht mit so einem Gespräch belasten?“, fragt er.

Bei One-Night-Stands benutzt Felix trotzdem ein Kondom. „Immer“, sagt er. Das Risiko sexuell übertragbarer Krankheiten oder einer ungewollten Schwangerschaft geht er lieber nicht ein. In einer Beziehung sei das nochmal anders. Mit 17 hatte er zum ersten Mal Sex ohne Kondom – mit einer festen Freundin und dem ausdrücklichen Segen seines Arztes.

Dass HIV beim Küssen oder beim Benutzen einer gemeinsamen Toilette, nicht übertragen werden kann, wissen heute die meisten. Dass moderne Therapien Betroffenen eine normale Lebensspanne ermöglichen, auch. Doch beim Thema HIV und Sex ohne Kondom bleiben Zweifel. Bleibt nicht immer ein Restrisiko?

„Immer wieder stellen Skeptiker diese Frage“, sagt Haberl, die auf HIV spezialisierte Ärztin. „Dabei haben Studien eindeutig den Schutzeffekt der Therapie bewiesen“, sagt sie. „Wissenschaftlich lässt sich allerdings niemals das Nicht-Auftreten eines unwahrscheinlichen, aber doch theoretisch möglichen Ereignisses beweisen“, sagt Haberl. Egal wie viele Sexualkontakte ohne Übertragung die Wissenschaft aufzeichnet: Dass eine Übertragung hundert Prozent unmöglich ist, lässt sich damit nicht zeigen.

Auch in der Medizin gibt es keine hunderprozentige Sicherheit

Dies sei aber ein grundsätzliches wissenschaftliches Problem. Denn auch, dass Küssen nicht HIV übertrage, lasse sich nicht zu hundert Prozent beweisen. „Wir haben zwar Millionen von Beobachtungen, die das Gegenteil nahelegen“, sagt Haberl. „Doch auch die beweisen nicht, dass es unmöglich ist.“ In der Medizin gebe es, wie auch sonst im Leben, eben keine hundertprozentigen Sicherheiten.

Was die Wissenschaft aber kann, ist beobachten und Schlüsse ziehen. „In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien mit sogenannten diskordanten Paaren durchgeführt“, sagt Haberl. „Diskordant heißt: Eine Partnerin oder ein Partner ist HIV-positiv, die oder der andere negativ.“ Zehntausende kondomlose Sexualkontakte diskordanter Paare haben die Forscherinnen in Studien untersucht. Waren die positiven Partner in Behandlung, kam es in keinem einzigen Fall zu einer HIV-Übertragung auf die Geschlechtspartner*innen. Das gelte sowohl für heterosexuelle als auch für homosexuelle Paare.

Diese Studien sind der Grund, warum es heute heißt: „nicht nachweisbar gleich nicht übertragbar“. Über 550 internationale Gesundheitsorganisationen unterstützen dieses Statement. Auch das deutsche Gesundheitsministerium schreibt auf seiner Website: „Die regelmäßige Einnahme von antiretroviralen Medikamenten bei Menschen mit HIV führt dazu, dass die Virusmenge im Blut sehr gering ist, so dass HIV beim Geschlechtsverkehr ohne Kondom nicht übertragen werden kann.“

Trotzdem bleiben Ängste. Eine von Felix' Ex-Freundinnen fühlte sich nach einiger Zeit unwohl und wollte wieder ein Kondom benutzen. „Ich glaube, sie hat ihre Angst vor HIV anfangs verdrängt“, sagt Felix. Lieber ein Kondom benutzen zu wollen, sei natürlich völlig in Ordnung. „Aber mich hat verletzt, dass sie nicht mit mir über ihre Ängste gesprochen hat“, sagt Felix. Ihr Unwohlsein kommunizierte sie nur über ihren Wunsch, wieder ein Kondom zu benutzen. „Ich hatte das Gefühl, sie vertraut mir nicht“, sagt Felix.

Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aids-Hilfe, kennt diese Problematik. „Wenn es darum geht, Vertrauen in die Schutzwirkung der Therapie zu gewinnen, kann es helfen, den Partner zu einem Gespräch bei der Ärzt*in mitzunehmen“, sagt Holger Wicht. Deren medizinische Expertise gibt Sicherheit. Ebenso effektiv könne es sein, sich über die Ergebnisse der Studien selber zu informieren. Zehntausende Sexualkontakte ohne Übertragung, das reiche vielen Menschen als Beweis. „Wichtig ist es aber auch, den Partner nicht zu drängen“, sagt Wicht. „Jeder hat sein eigenes Tempo. Bis das Wissen vom Kopf in den Bauch wandert, kann es dauern.“

Erfolgreich therapierte Menschen mit HIV müssen vor dem Sex nicht von ihrer Infektion erzählen. Doch gerade wenn sich aus einem One-Night-Stand mehr entwickelt, stellt sich die Frage, wann sie die Karten auf den Tisch legen wollen. „Den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden, das ist oft schwer“, sagt Wicht. Erzählt man es zu früh, verliere der Partner vielleicht das Interesse. Erzählt man es zu spät, könnte der Partner einem vorwerfen, es verschwiegen zu haben. Ein Dilemma. 

Felix hat das Virus von seiner Mutter

Auch Felix hat diese Erfahrung gemacht. Mit 15 lernte er seine erste Freundin Lydia auf einem Skatepark kennen. „Drei Monate waren wir ein Paar, knutschten bis in die Nacht hinein“, sagt er. Von seiner Infektion wollte er ihr erst erzählen, wenn er sie etwas besser kennengelernt hatte. Doch dann erfuhr sie über gemeinsame Freunde davon. Für sie ein riesiger Vertrauensbruch, die Beziehung ging zu Bruch. Er habe ihre Entscheidung zwar nachvollziehen können. „Trotzdem war ich echt fertig“, sagt Felix. „Ich habe versucht, mein Zögern zu erklären und mich zu entschuldigen, aber damals konnte Lydia das nicht annehmen.“

Die Stigmatisierung von HIV-Positiven richtet bis heute großen Schaden an. „Die Therapien sind mittlerweile einfach und verträglich“, sagt Haberl. „Rein medizinisch kann man gut mit HIV leben.“ Doch Betroffene haben trotzdem oft eine niedrigere Lebensqualität als der Bevölkerungsdurchschnitt. Denn HIV sei für viele immer noch eine „schmutzige Erkrankung“, wie Haberl es formuliert. Die Angst geoutet und verurteilt zu werden, sei bei Menschen mit HIV allgegenwärtig. Manch HIV-positive Mutter verschweige ihre Erkrankung selbst ihren eigenen Kindern. Die Angst, dass im Schulumfeld jemand davon erfahren könnte, ist zu groß. 

Felix gehört zu den wenigen Kindern seines Jahrgangs in Deutschland, bei denen das Virus bei der Geburt noch von der Mutter auf das Kind übertragen wurde. Denn unter Therapie können Menschen mit HIV heute ohne Probleme gesunde Kinder kriegen. Seine Mutter war sich ihrer Infektion während der Schwangerschaft allerdings noch nicht bewusst. Neben all den medizinischen Besserungen hat sich auch das gesellschaftliche Klima gegenüber HIV-Positiven verbessert. „In Deutschland hat sich die Gesellschaft zum Glück grundsätzlich für einen solidarischen Umgang mit HIV-positiven Menschen entschieden“, sagt Holger Wicht. 

Heute ist Felix wieder mit Lydia in Kontakt. Nach Jahren der Funkstille, haben die beiden sich neu angefreundet. Sie könne jetzt nachvollziehen, warum er sich damals nicht sofort geoutet habe, sagt Felix. „Sie ist zu meiner besten Freundin geworden.“

Das RKI schätzt, dass 87 900 Menschen mit HIV in Deutschland leben (Stand: Ende 2018). 10 600 von ihnen wissen nicht von ihrer Infektion. 

Mehr als die Hälfte hat sich beim Sex zwischen Männern in Deutschland angesteckt. Heterosexueller Sex und Drogenkonsum sind für die restlichen Infektionen verantwortlich. Besonders häufig wird HIV bei Sex in Ländern übertragen, in denen HIV verbreiteter ist als in Deutschland.

Seit 2019 übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für die Präexpositionsprophylaxe (PrEP)  für Menschen mit erhöhtem HIV-Risiko. Sie ist ein verlässliches Medikament, um die Ansteckung mit HIV schon im Vorhinein zu verhindern.

HIV ist sehr schwer übertragbar. Im Alltag, beim Küssen, Anhusten, oder Benutzen derselben Toilette kann das Virus nicht übertragen werden. Sex ohne Kondom und intravenöser Drogenkonsum sind die Hauptübertragungswege. Unter Therapie ist HIV nicht mehr übertragbar.

In Deutschland sind Menschen mit HIV ohne Therapie gesetzlich dazu verpflichtet, Sexualpartner*innen vor einer Ansteckung zu schützen oder sie über die Infektion zu informieren. Ansonsten machen sie sich strafbar.

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