Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Wie es ist, Geräusche zu hassen

Geräusche nicht ertragen zu können, macht den Alltag von Betroffenen schwer.
Illustration: FDE

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Im Kino läuft der neue Blockbuster auf der Leinwand. Alles ist dunkel, die Geschichte spannend. Und dann fängt auf einmal der Sitznachbar an, laut seine Cola zu schlürfen. Vor einem raschelt die Popcorntüte und in der Reihe dahinter schnieft ein Pärchen. Geräusche können nerven, das ist klar.

Für Leonie und Patrick ist es aber noch viel krasser: Sie hassen Geräusche. So sehr, dass sie beim Hören ausrasten könnten und ihr Gegenüber am liebsten mit Schimpfworten überschütten würden. „Ohne Weiteres ist ein Kinobesuch für mich nicht möglich“, meint Leonie. Die 24-jährige Studentin sagt, sie ist seit fünf Jahren nicht mehr im Kino gewesen. Wenn, dann gehe sie nur, sobald der Film schon fast ausgelaufen und nur noch wenige Leute in der Vorführung sind. Auch Patrick kennt das. Ins Kino geht der 35-Jährige nur mit Kopfhörern, über die der Film läuft, um Geräusche wie Flüstern, das Rascheln von Tüten oder Schlürfen zu vermeiden. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sonst der Schalter im Gehirn umgelegt wird und bei den beiden negative Emotionen entstehen, die sich gegen das Umfeld richten. Leonie und Patrick haben Misophonie.

Wörtlich übersetzt heißt das „Hass auf Geräusche“, in Fachkreisen wird von einer „selektiven Geräuschintoleranz“ gesprochen. Für Leonie ist es „wie ein Tunnelblick mit den Ohren“. Hört sie ein bestimmtes Geräusch, setzt das bei ihr eine Kette an Reaktionen und Emotionen in Gang: „Wenn in der U-Bahn jemand in meiner Nähe zum Beispiel ein Brötchen isst und dabei schmatzt, will ich einfach nur schnell aus der Bahn“, erzählt Leonie.  Aber es ist nicht nur der Drang, solchen Situationen zu entkommen. In diesen Momenten hört die 24-Jährige nur noch das sogenannte Triggergeräusch. „Wenn ich gerade am Reden bin, verliere ich komplett den Faden und die Konzentration ist weg.“ Dazu kommen starke Gefühle wie Ekel und Hass. „Ich fühle eine krasse Wut gegenüber meinen Mitmenschen.“ So beschreibt Leonie es. 

„Das Thema wurde lange Zeit nicht ernst genommen“

Es sind bestimmte Geräusche, sogenannte Trigger, die diese reflexartigen Reaktionen hervorrufen. Bei Leonie sind es vor allem Geräusche, die beim Essen entstehen. Lautes Kauen und Schmatzen, Schlürfen oder Schlucken. Was sich andere in Form von ASMR-Videos zum Entspannen anschauen, ist für sie eine Qual. Die Reaktionen im Umfeld von Misophoniker:innen sind oft ähnlich: „Stell dich doch nicht so an! Du übertreibst, jetzt sei mal nicht so sensibel…“ Sätze, die Leonie nicht mehr hören kann.

Misophonie ist bislang wenig erforscht. Bis heute sind sich die Experten uneinig, ob es sich um eine neurologische oder psychologische Störung handelt. Das sagt auch Constanze Weber, Psychotherapeutin an der psychotherapeutischen Ambulanz der Universität Bielefeld. Sie führt seit einigen Jahren mit ihrem Team Forschungstherapien mit Misophonie-Betroffenen durch. „Das Thema wurde lange Zeit nicht ernst genommen“, betont Weber. Das schlägt sich auch in der Wissenschaft nieder. Im ICD-10-Katalog, der international Krankheiten kategorisiert, ist Misophonie nicht enthalten. Im wissenschaftlichen Kontext tauchte der Begriff 2001 das erste Mal auf. Und erst vor fünf Jahren konnte ein englisches Forschungsteam nachweisen, dass Geräusche bei Betroffenen in bestimmten Gehirnregionen außergewöhnlich starke Reaktionen hervorrufen. Dass der Forschungsstand noch Lücken aufweist, macht es auch für Betroffene nicht leicht.

Unterwegs hat er immer sein Notfallpäckchen dabei

Das weiß auch Patrick nur zu gut. Er leidet seit seiner Kindheit an Misophonie. Angefangen hat bei ihm alles am Esstisch der Familie. Links von ihm die Schwester, gegenüber die Mutter und rechts von ihm der Vater. Dessen Kauen war Patricks erster Trigger, an den er sich erinnern kann. „Ich wurde total unruhig, habe mein Essen schnell runtergeschlungen und wollte am liebsten vom Tisch aufstehen.“ Meistens durfte er das nicht. Eine angespannte Atmosphäre beim Familienessen und schulische Probleme als Jugendlicher waren nur einige Folgen. Erst vor wenigen Jahren fand der IT-Berater heraus, was wirklich mit ihm los war. Als ihm durch Zufall ein Buch über Misophonie in die Hände fiel, liefen ihm beim Lesen die Tränen über das Gesicht. „Ich war so dankbar, endlich herausgefunden zu haben, was mit mir los ist.“

Mit diesem Wissen änderte sich auch seine Situation. Patrick erzählt, dass er auf einmal verstand, dass er nicht einfach nur verrückt war, wie er zuvor glaubte. Er fing an, sich zu informieren und verschiedene Wege auszuprobieren, wie er mit seiner Misophonie umgehen kann. Heute weiß er: „Je entspannter ich bin, desto seltener werde ich getriggert und je seltener ich getriggert werde, desto entspannter bin ich.“ Im Alltag nehmen bei ihm Praktiken wie Meditation einen festen Platz ein. Unterwegs hat er immer sein Notfallpäckchen dabei, bestehend aus Knautschbällen, Ohrstöpsel, Kopfhörern und CBD-Öl. Die Wirkung von letzterem ist umstritten, Patrick aber sagt, es helfe ihm beim Entspannen. Auch zuhause ist er ausgestattet. Eine sprachgesteuerte Musikanlage gibt ihm die Möglichkeit, jederzeit innerhalb von wenigen Sekunden in eine Art geschützte Umgebung zu wechseln. Musik hilft ihm in kritischen Situationen. Durch sie wird sein Fokus weg vom Triggergeräusch gelenkt.

Patrick wohnt gemeinsam mit seiner Freundin und deren Katzen in einer Wohnung. Das Zusammenleben funktioniert dank viel Kommunikation und bestimmten Regeln. So ist beispielsweise die Chipstüte auf der Couch abends ein Tabu. Patricks Freundin wusste zu Beginn der Beziehung nichts von der Misophonie. „Ich habe neun Monate gebraucht, es ihr zu sagen“, gibt der 35-Jährige zu. Als Mann müsse man Stärke zeigen, die starke Schulter sein – Rollenklischees wie diese brachten Patrick dazu, zu schweigen. Im Nachhinein findet er das lächerlich. „Meine Freundin fragte letztlich, wie sie mich unterstützen könne und man die Situation gemeinsam in den Griff kriegen würde.“ Im schlimmsten Fall hatte Patrick mit Unverständnis und Ablehnung gerechnet. Dass das nicht so gekommen ist, war für ihn eine Erleichterung.

Die Chipstüte auf der Couch abends ist ein Tabu

Patrick ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Misophoniker:innen fällt es oft schwer, ihrem Umfeld mitzuteilen, wie sie sich fühlen. Die Angst vor Stigmatisierung und die Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden, sind groß.

Leonies Umfeld nimmt Rücksicht und versucht, Triggergeräusche bewusst von ihr fernzuhalten. Trotzdem fällt ihr der normale Alltag schwer. Es lauern einfach überall Geräusche, die Leonies Emotionen innerhalb weniger Momente auf den Kopf stellen können. In der S-Bahn, zuhause und auch in der Uni. Dass ihr aktuelles Studium coronabedingt zum großen Teil digital stattfindet, kommt ihr entgegen. Sie erinnert sich an eine Studienveranstaltung vor ein paar Jahren im Hamburger Audimax. Alle Studierenden hatten feste Sitzplätze. Hinter Leonie saß ein Kommilitone, der eine Art Keuchtick hatte. Das Keuchgeräusch alle paar Sekunden war für Leonie unerträglich. Obwohl ihr bewusst war, dass ihr Kommilitone am allerwenigsten dafür konnte, hielt sie die Situation nicht aus. Das Keuchen war ein Triggergeräusch, in Leonies Kopf herrschte Chaos. Das Gefühl, nicht aus der Situation fliehen zu können und dazu das Wissen, dass der Kommilitone selbst nichts für sein Keuchen konnte, war für sie zu viel. Sich auf den Inhalt des Tutoriums zu konzentrieren – unmöglich. „Ich habe mich total überwältigt gefühlt von den Eindrücken und Panik bekommen.“ Woche für Woche blieb ihr nur der Ausweg, während des Tutoriums für eine halbe Stunde auf die Toilette zu fliehen.

Ein Medikament existiert nicht, eine klassische Therapie – Fehlanzeige

Auf der Suche nach Hilfe sei die Studentin bei vielen verschiedenen Ärzt:innen gewesen. Kaum einem von ihnen war Misophonie ein Begriff. Auch Leonie wusste zu dem Zeitpunkt nur davon, weil sie im Internet etwas dazu gelesen hatte. Es gibt gegen Misophonie weder Medikamente noch eine klassische Therapie.

Auch Psychotherapeutin Constanze Weber hat kein Geheimrezept. Mit ihrem Team probiert sie viel aus. „Insgesamt machen wir sehr gute Erfahrung damit, mit den Patient:innen zu trainieren, die Aufmerksamkeit von Triggergeräuschen wegzulenken und sich auf das Eigentliche zu fokussieren“, erzählt sie. Trotzdem ist sie überzeugt davon, dass noch mehr Forschung notwendig sei, um die Störung und die Prozesse dahinter vollständig zu verstehen. „In der Forschung wird Misophonie vorwiegend als psychiatrisches Störungsbild aufgefasst, bei dem kognitiv-verhaltensspezifische und neurologische Prozesse eine Rolle spielen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Die genaue Ursache sei bislang aber ungeklärt. Auch die konkrete Anzahl der Betroffenen sei unbekannt. „Die Häufigkeitsangaben in den bisherigen Studien schwanken zwischen drei und 20 Prozent“, so Weber. Sie rät Betroffenen trotzdem, Verwandte und Bekannte einzubeziehen. So könne der Ärger über das Geräusch besser eingeordnet und verstanden werden.

  • teilen
  • schließen