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Warum Leon sich selbst einen Mikro-Chip implantiert hat
„Du hast aber nicht getrunken, oder?“, fragt einer der Freunde, bevor Leon* sich selbst einen Mikrochip implantiert. Auf dem Tisch liegt der Injektionsapparat, mit einer ungefähr halben Zentimeter dicken Nadel. Darin befindet sich der Mikrochip. Leon will den Chip in seine Hand setzen, um seine Bitcoins ab jetzt unter der Haut tragen zu können. Auf seiner Hand ist schon ein Punkt vorgezeichnet, an dieser Stelle will er gleich einstechen.
Wie man den Chip implantiert, weiß er aus einem Youtube-Tutorial und der Anleitung des Herstellers. Der empfiehlt zwar auch, in ein professionelles Piercingstudio zu gehen, aber Leon denkt, dass er das auch selbst hinkriegt. „Sah echt kleiner aus auf den Bildern“, sagt Leon, bevor er seinen Freund bittet, die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger festzuhalten, damit er besser hineinstechen kann. Er setzt die Nadel an und keine Minute später trägt er den Mikrochip unter seiner Haut. Danach hält er das Handy an seine Hand und sofort wird die Meldung „leerer NFC-Chip“ angezeigt. Es hat funktioniert – und betrunken war er natürlich nicht.
Das war 2014. Festgehalten wurde der Moment in einem verwackelten Handyvideo. Leon studiert Philosophie, arbeitet in der IT-Sicherheits-Branche und trägt seitdem einen Mikrochip in seiner linken Hand. Der 25-Jährige hatte das Projekt der Firma „Dangerous Things“ zum ersten Mal auf einer Crowdfunding-Seite gesehen. Als der Shop online ging, bestellte er sich ein Set für ungefähr 120 US-Dollar. Bedingungen für die Bestellung gab es keine. Nun steht ein anderer Anbieter nach eigenen Angaben kurz davor, Implantate zu verkaufen, mit denen es möglich ist per Handauflegen zu bezahlen. Der „nächste Schritt der digitalen Transformation“, so das Unternehmen.
Oliver Bendel ist Informations- und Maschinenethiker und arbeitet an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er erzählt, dass das Implantieren von Chips weit verbreitet ist: „2017 war die Rede von 10 000 Personen weltweit. Heute könnten es Zehntausende sein, die einen nichtmedizinischen Chip in sich haben.“ Das Implantieren eines Mikrochips sei „Bodyhacking“, also die physische oder psychische Umwandlung eines menschlichen oder tierischen Körpers. „Aus dem Betroffenen wird ein Cyborg“, erklärt Bendel.
Leon selbst würde sich nicht als Cyborg bezeichnen. Er definiert den Begriff für sich so, dass Technik und Körper aktiv miteinander interagieren müssen. Sein Chip ist nur ein passiver Datenspeicher. Er funktioniert mit „Near Field Communitation“-Technik, kurz NFC. Es können kleinere Datenmengen, etwas weniger als ein Kilobyte, darauf gespeichert und über kurze Distanz ausgelesen oder verändert werden. Leon hat ihn zunächst als Bitcoin-Wallet verwendet, denn für ihn ist das das sicherste „Aufbewahrungsmittel“: diskret und immer dabei. Seitdem er seine Bitcoins verkauft hat, speichert er nur noch seinen Namen, Handynummer und E-Mail-Adresse – seine neue Visitenkarte.
Ein implantierter Chip ist schwer zu stehlen
Außerdem kann er die Technologie nutzen, um Sicherheitslücken bei Android Smartphones aufzuzeigen: Auch Handys verfügen über NFC-Technik und die ist bei den meisten von Anfang an aktiviert. Wenn sie vom Handybesitzer nicht deaktiviert worden ist und Leon seine Hand an das Smartphone hält, öffnet sich automatisch ein Link. Drückt der Nutzer darauf, wird ein Virus heruntergeladen. Angst davor, selbst gehackt oder sogar getrackt zu werden, hat er aber nicht. So einfach lässt sich sein Chip nämlich nicht auslesen. „Man müsste sehr nah an meine Hand rangehen. Ich müsste kurz stillhalten und außerdem müsste man erst mal wissen, dass da überhaupt ein Chip ist“, erklärt Leon. Das macht die Technologie für ihn zu einem sehr sicheren Speicher: nicht offensichtlich und zudem noch passwortgeschützt.
Bendel stimmt Leons Argument, der Chip sei der sicherste Speicher, ein Stück weit zu. „Man kann den Chip natürlich nicht verlieren. Und für einen Dieb ist es nicht so einfach, ihn mitzunehmen, weil er nicht in der Gegend herumliegt“, sagt er. Es gibt aber auch andere Technologien: Neben den NFC-Chips kann man sich auch RFID-Chips implantieren lassen. Viele von ihnen sind auf mittlere Distanzen ausgerichtet und können ganz leicht getrackt werden. „Dies wurde schon vor Jahren in amerikanischen Shopping Malls gemacht – mit Hilfe von Chips, die in der Kleidung oder in Schuhen stecken“, erklärt Bendel. In erster Linie sollen die Chips, die zum Beispiel in Pflege-Etiketten versteckt sind, dabei helfen, Warenströme zu verfolgen. Theoretisch kann dadurch jedoch auch ein Bewegungsprofil des Käufers erstellt werden.
In Zukunft könnte es noch weitere Gefahren durch die Chip-Implantate geben. In Schweden gibt es bereits Firmen, die ihren Mitarbeitern anbieten, statt Chipkarten NFC-Chips unter der Haut zu verwenden. Das bringt ihnen momentan keinen Vorteil und ist auch nicht verpflichtend. Bendel warnt aber davor, dass sich das ändert: „Problematisch wird es, sobald sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Druck entsteht. Wenn das Tragen eines Chips etwa zur Norm wird, der sich kaum jemand entziehen kann, und Privatsphäre und informationelle Autonomie beeinträchtigt werden.“
„Ich finde Daten etwas unglaublich Intimes“
Wenn es den Menschen momentan keinen Vorteil gibt, warum entscheiden sich dann trotzdem so viele dafür, sich einen Chip zu implantieren? Laut dem Informations- und Maschinenethiker Bendel halten sich manche für die Vorreiter für technologische Entwicklungen. „Anhänger von Bio- und Bodyhacking finden es insgesamt faszinierend, in die Natur einzugreifen und Organismen umzugestalten. Sie sind Schöpfer, Künstler, Geeks“, sagt Bendel.
Auch Leon ist sich der Gefahren bewusst. Sollte das Tragen eines Chips zum Beispiel zu einem Einstellungskriterium werden, ginge ihm das zu weit. „Das ist ein Thema, auf das wir unbedingt ein Auge haben müssen“, sagt der 25-Jährige. Für ihn könnten solche Chips sogar ein Mittel für mehr Privatsphäre sein: „Ich finde Daten etwas unglaublich Intimes und denke daher, dass es naheliegt, Daten auch im Körper zu transportieren.“ Leon ist sich recht sicher, dass er sich auch das neue „Payment Implantat“ einsetzen wird, sobald es auf den Markt kommt. „Black Mirror“ kann er übrigens immer noch mit ruhigem Gewissen anschauen, sagt er. Schließlich weiß er, was sein Chip momentan kann – und was eben noch nicht.
*Namen von der Redaktion geändert