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Was Rassismus mit der Psyche macht

Lernen rassifizierte Menschen, sich selbst nicht ernst zu nehmen, wirkt sich das in vielen Lebensbereichen aus, sagt die Expertin.
Foto: Jurien Huggins / Unsplash

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Ständig auf Englisch angesprochen werden, an der Club-Tür nur Kopfschütteln ernten oder dauernd die Frage nach der „eigentlichen“ Herkunft beantworten müssen – als Person mit sichtbarem Migrationshintergrund hat man im Alltag immer wieder mit Rassismus zu kämpfen. Das machen auch einige Studien deutlich. So etwa der Afrozensus (2020), die erste umfassende Befragung zu Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Lebensrealitäten in Deutschland, worin Teilnehmer:innen schilderten, in welchen Situationen sie mit Rassismus in Berührung kommen – etwa bei der Wohnungssuche oder im Berufsalltag.

Rassismus bleibt für Menschen, die selbst keine Erfahrungen mit ihm machen müssen, oft unsichtbar. Deshalb ist er für Betroffene aber nicht weniger schmerzhaft. Rassistische Erfahrungen können die psychische Gesundheit belasten und therapeutische Hilfe erforderlich machen.

Dr. Birsen Kahraman ist Psychotherapeutin und Expertin im Bereich rassismuskritische und kultursensible Therapie. Im Interview spricht sie über die psychischen Folgen von Alltagsrassismus und erklärt, was Betroffene und Angehörige diesbezüglich tun können. 

SZ Jetzt: Welche Auswirkungen kann Alltagsrassismus auf die Psyche haben?

Dr. Birsen Kahraman: Viele Betroffene sind permanent unsicher und zurückhaltend. Sie nehmen sich oft selbst nicht als „normal“ wahr, sondern eher als Ausnahme oder „anders“. Deswegen halten sie gewöhnliche Ansprüche oder Forderungen oftmals zurück. Viele von Rassismus betroffene Menschen leiden unter chronischer Über-Erregung bedingt durch die Erfahrungen, die sie alltäglich machen.

Welche konkreten Symptome können dabei auftreten?

Die Ausbildung von Ängsten, vor allem sozialer Art, ist sehr häufig. Eine chronische Hypererregtheit, weil man ständig im Hinterkopf hat: „Kann mir wieder etwas passieren?“ Gerade wenn man in eine neue Situation kommt, etwa einen neuen Job. Wenn man ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat, können rassistische Erfahrungen fatal sein. Wir wissen aus der Forschung, dass bei rassifizierten Personen Psychosen häufiger auftreten, auch zu schweren Depressionen kommt es öfter. Auf allen Ebenen zeigt sich, dass sie allgemein eine höhere Krankheitslast und Sterblichkeit haben.

Das ist eine lange Liste. Was belastet Betroffene am meisten?

Ich glaube, das Schwierigste ist für viele, dass sie permanent Rassismus erleben und ihm nicht ausweichen können. Es gibt keine rassismusfreien Räume, außer man versucht, sie zu schaffen – wie etwa Safer Spaces. Aber auch diese sind nicht von Dauer und selbst dort gehen wir ja mit unseren Rassismuserfahrungen hinein und reproduzieren selbst rassistische Dinge. Ob wir wollen oder nicht.

Eine Studentin erzählte mir neulich, sie sei total befreit gewesen, als der Lockdown war – endlich eine Auszeit von dem Rassismus, den sie sonst an der Uni erlebte. Für Menschen mit chronischem Rassismus-Stress im Leben ist der Rückzug oft einfacher.

alltagsrassismus interview expertin

Birsen Kahraman ist Psychotherapeutin und Expertin im Bereich rassismuskritische und kultursensible Therapie.

Foto: Privat

Inwiefern wirkt es sich aus, wenn ich schon im jungen Alter Erfahrungen mit Rassismus machen muss?

Rassismuserfahrungen können wie alle frühen Traumatisierungen gravierend sein. Daher ist es besonders wichtig, dass sie gut aufgefangen werden. Kinder lernen ständig über sich und die Welt. Daher hat es massive Auswirkungen, wenn sie mitbekommen, dass sie nicht dazugehören. Ihnen nicht zugetraut wird, dass sie gut sind und die Schule schaffen werden. Oder man sie anders bezeichnet, als „Ausländerkind“, als „Kind mit Migrationshintergrund“. Sie fragen sich: „Bin ich anders? Bin ich falsch?“ und schämen sich.

Können Rassismuserfahrungen im Alltag auch zu verinnerlichtem Rassismus bei den Betroffenen führen?

Natürlich. Internalisierter, also verinnerlichter, Rassismus ist eine besonders schlimme Wunde in ganz vielen meiner Klient:innen. Wenn mir immer vermittelt wird, schlechter als andere oder „anders“ zu sein, dann nehme ich das irgendwann natürlich auch selbst von mir an.

Haben Sie hier ein konkretes Beispiel?

Lernen rassifizierte Menschen, sich selbst nicht ernst zu nehmen, wirkt sich das in vielen Lebensbereichen aus. Vor allem meine studierenden Klient:innen sind sich selbst gegenüber oft sehr kritisch und unsicher, manche haben massive Prüfungsängste. Sie schaffen ihre Prüfungen meist, leiden aber oft unter dem Impostor-Syndrom*.

Von Rassismus Betroffene gehen außerdem oft viel später in Behandlung, zu Ärzt:innen oder zur Therapie. Viele meiner Patient:innen kommen zum Beispiel mit Diagnosen zu mir, die sie schon viel früher erhalten haben, wegen denen sie dann aber nicht in Behandlung gegangen sind. Das hat auch mit ihren bisherigen Diskriminierungserfahrungen in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen zu tun.

Welche Bewältigungsstrategien können bei psychischer Belastung durch Alltagsrassismus helfen?

Ein wichtiger Punkt ist, sich bewusst zu machen: Wo erlebe ich Rassismus und Ausgrenzung? Wo bin ich in toxischen Räumen oder Beziehungen? Wo kann ich mich ein Stück herausnehmen? Viele wissen gar nicht, woher Symptome wie Erschöpfung oder Panikattacken kommen oder denken, dass sie trotzdem funktionieren müssen. Verständlicherweise, es gibt ja auch einen immensen Leistungs- und Anpassungsdruck in unserer Gesellschaft. Und rassifizierte Personen werden in der Regel nochmal deutlich kritischer bewertet. Man kann aber lernen, sich selbst verständnisvoll und wohlwollend zu begegnen.

Was kann man noch tun?

Sich darüber informieren, wie man sich wehren kann. Ich schicke Klient:innen auch zu Beratungsstellen für Antidiskriminierung, damit sie die Strukturen verstehen und lernen, dass es Hilfe gibt.

„Vor allem ist es wichtig, traumatische Erlebnisse zu besprechen“

Es ist auch immer eine Abwägungssache – wir müssen lernen, einzuschätzen, wofür es sich lohnt, seine Kräfte einzusetzen. Es nützt zudem, sich ein gutes Netzwerk aufzubauen und zu wissen: Ich habe Menschen, die das verstehen, mich unterstützen, die mich aber auch ganz anders sehen, mit denen ich auch Leichtigkeit erleben kann. Studierende berichten mir, dass sie BIPoC-Gruppen an ihren Unis gegründet haben. So etwas ist unglaublich empowernd und eine gute Selbsthilfemöglichkeit. All das soll aber nicht davon ablenken, dass es dringend professionelle Strukturen braucht. In einigen größeren Städten gibt es Antidiskriminierungsstellen mit guten Beratungsmöglichkeiten. Das müsste noch viel mehr ausgebaut werden.

Vor allem ist es wichtig, traumatische Erlebnisse zu besprechen, zum Beispiel in einer Therapie. Eine Klientin sagte mal, sie könne sich nicht vorstellen, irgendwann mit der Therapie aufzuhören. Das sei ihr einziger Ort, wo sie rassistische Erfahrungen in der Tiefe besprechen kann. Dinge, mit denen sie ihre Freund:innen oder Familie nicht belasten möchte.

Was, wenn Therapeut:innen Erfahrungen heruntermachen oder nicht ernst nehmen?

Das ist schlimmstenfalls eine Retraumatisierung und auf jeden Fall eine Entwertung der eigenen Erfahrungen. Es führt dazu, dass ich mich noch schlechter fühle als vorher, denn vorher hatte ich zumindest noch etwas Hoffnung auf Verständnis, auf Besserung. Und dann wird diese Hoffnung zunichtegemacht, und zwar nicht von irgendjemandem, sondern von der Therapeutin, von der man dachte, sie wird mich verstehen, mich begleiten und mir helfen.

Oft ist es auch so, dass Äußerungen, die auf rassistische Erfahrungen hindeuten, von dem:der Therapeut:in gar nicht gehört oder als solche wahrgenommen werden. In der Folge erwähnen Patient:innen diese Dinge dann oft nicht mehr und übergehen sie selbst. Sie denken: „Er:Sie reagiert nicht darauf, dann habe ich hier keinen Raum dafür, dann muss ich das vielleicht woanders machen.“

Und dann?

Im schlimmsten Fall brechen sie die Therapie ab – das ist gar nicht so selten. Ich habe viele Klient:innen, die vorher schon in einer anderen Praxis waren. Doch sie haben gemerkt, dass ihnen die Therapie einfach nichts bringt, wenn sie das Thema Rassismus ständig aussparen. Das führt zu sehr viel Enttäuschung und Frustration. Doch in der Therapieausbildung wird insgesamt noch viel zu wenig für Rassismus sensibilisiert.

Was macht eine Therapie aus, die sensibel mit Rassismus umgeht?

Ausschlaggebend ist für mich, als Therapeut:in die eigene Positionierung zu kennen. Ich muss selbst wissen, in welcher Weise ich von Rassismus betroffen bin bzw. inwiefern ich von Rassismus profitiere – selbst wenn ich das nicht bewusst mache. Ich muss mich kritisch damit auseinandersetzen, diese Gefühle ertragen und in einer guten Weise verarbeitet haben. Erst dann kann ich mit Klient:innen arbeiten, die von Rassismuserfahrungen berichten. Das ist wichtig, um Traumata in der Therapie nicht zu reproduzieren und sie nicht in Frage zu stellen. Denn das ist total daneben.

„Rassismus, das sind ja nicht nur gewalttätige Übergriffe, sondern ganz subtile Dinge“

Rassismus gibt es, er ist allgegenwärtig, dringt von klein auf bis in den hintersten Teil deines Lebens durch. Bis in deine intimsten Beziehungen, er spielt sich in uns selbst ab. Das alles anerkennen zu können, setzt viel Wissen und Beschäftigung voraus. Und viel Frustrationstoleranz, denn es ist natürlich auch gar nicht sexy, sich damit zu beschäftigen.

Wie können Menschen helfen, die selbst keine Rassismuserfahrungen machen?

Menschen, die nicht zu rassifizierten Gruppen gehören, können sich weiterbilden. Es gibt so viel Material dazu. Wenn ich als weiß positionierte Person Rassismus beobachte, kann ich eher einschreiten, wenn ich eine gewisse Sensibilität und Selbstsicherheit habe. Rassismus, das sind ja nicht nur gewalttätige Übergriffe, sondern oft ganz subtile Dinge, die große Auswirkungen haben: Auslassungen, die gemacht werden. Leute, die übergangen werden. Menschen, die mit vorgeschobenen Argumenten ausgegrenzt werden. Was man sich merken kann: Bleibt man still, stimmt man zu. Zumindest sieht es auf der Verhaltensebene so aus.

Natürlich kann man nicht ständig reagieren, aber wenn man es zumindest versucht, dann ist das eine ganz wesentliche Entlastung. Das erzählen mir Klient:innen immer wieder. Dass da jemand war, der etwas gesagt hat und sie nicht allein hat stehen lassen. Auch das kann heilsam sein. Das macht nicht alles gut, aber führt dazu, dass von Rassismus Betroffene ein bisschen mehr Vertrauen in ihre Umwelt bekommen und sich ihre ständige Erregung und der Stress, den sie durch die Erwartung rassistischer Vorfälle erleben, ein wenig verringern kann. Man kann dazu beitragen, dass es mehr Räume gibt, in denen sich rassifizierte Personen zeigen können und Unterstützung finden. Es gehört auch dazu, Dinge aktiv einzufordern. Wenn ein Raum, ein Panel, ein Team komplett weiß sind, kann man anmerken: „Moment, kann das sein? Sollten da nicht ein paar mehr BIPoC repräsentiert sein!“

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