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MTV hat das Update fürs Jahr 2019 vergessen

Die Sängerin Dido vor dem MTV Logo 2001
Foto: dpa

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MTV war für mich das, was für Leute zwischen zwölf und 20 Jahren heute Youtube ist: alles. Der Musiksender hatte, was Popkultur bieten muss: Spaß, Musik, Style, Drama, coole Vorbilder und Antihelden zum Fremdschämen. Und war eines der wenigen Programme, die ich überhaupt schauen durfte, zwischen Schule, Kirche und Kleinstadterledigungen. MTV war mein Fenster in die große, weite Welt. Sobald ich mit Hausaufgaben fertig war, folgte die Flucht in „My Super Sweet Sixteen“, „The Osbournes“ oder „Pimp my Ride“: Geburtstagsfeiern im Glitzerkleid, ein Familienleben, das verrückter als mein eigenes war und genau so ein Auto (mit Bassboxen im Kofferraum!), wie ich später auch eines haben wollte. Was ich damals über das Leben wusste, wusste ich von MTV.

Kein Wunder also, dass mich Nostalgie und Neugier packten bei dieser Ankündigung: „The Hills“, eine Pseudo-Realityserie über reiche, schöne Freundinnen in L.A., wird neu aufgelegt! Auch wenn ich inzwischen weiß, dass „The Osbournes“ in Wahrheit normaler waren als die Steinleins und Bassboxen im Kofferraum eigentlich ziemlich prollig und unpraktisch sind: Lauren „LC“ Conrad, Audrina Patridge und Whitney Port, meinen filmischen Begleiterinnen durch das Abi und die frühe Studienzeit, bin ich noch immer treu (auf Instagram) verbunden. Nach dem ersten Interview mit dem Cast von „The Hills – New Beginnings“ musste ich allerdings feststellen: Das Problem ist nicht, dass sich in zehn Jahren vieles ändert. Sondern, dass sich auf MTV in zehn Jahren nicht viel geändert hat.

Niemand ist queer, dick, arm oder nicht weiß

So sieht die neue Garde an „The Hills“-Darstellerinnen genauso aus wie damals:  hellhäutig, langhaarig, hollywoodschlank. Niemand ist queer, hochgewichtig, Normalverdiener oder Instagram-famous – dabei wäre das genau das heutige Pendant zum damaligen „Socialite“-Status der Protagonistinnen. Die Frage nach mehr Diversität beantwortet eine von ihnen tatsächlich mit dem Hinweis, die Kolleginnen Audrina Patridge und Mischa Barton seien doch brünett anstatt blond. Ziemlich panne im Jahr 2019 für eine Sendung, deren Inhalt nicht der Unique Selling Point ist. Für aus dem Off kommentierte Beziehungsdramen, Einblicke in Designerateliers, Promi-Gastauftritte und Schleichwerbung sind heute immerhin die Kardashians zuständig.

Auch das sonstige Programm von MTV macht es nicht besser. Die Sendung „Yo! MTV Raps“ war schon zehn Jahre off air, als meine Musikfernseh-Ära begann. Jetzt läuft sie wieder – und das ohne Facelift. Moderieren dürfen nicht der legendäre Doctor Dré mit Ed Lover, sondern Palina Rojinski (eine Frau, immerhin!) mit MC Bogy (kennt den jemand?). Ich sehe dort Fler, Frauenarzt und Kool Savas, die wir doch aus guten Gründen hinter uns gelassen hatten, beim Yo-Sagen zu und fühle das, was Oma wahrscheinlich immer fühlte, wenn sie „Die größten Hits der Siebziger“ guckte und sagte: „Mensch, der Boney M. is auch alt geworden, wa?“

Alternde Kinderstars beim Strugglen

„MTV Unplugged“ mit Samy Deluxe und Udo Lindenberg? Den Stecker bei den beiden hätten sie schon längst ziehen dürfen. Und bei „Lindsey Lohan’s Beach Club“ einem alternden Kinderstar beim Strugglen zugucken, der schon vor zehn Jahren ein alternder Kinderstar beim Strugglen war, ist mir schlicht zu pietätlos.

Ich kannte MTV als Sender, der popkulturelle Standards setzt. Der Konkurrenzsender Viva war mir immer zu deutsch, zu aufgedreht, zu kuschelig („Viva liebt dich!“). MTV hingegen durfte man vertrauen: Was hier lief, war wirklich cool, es war international und ging auch mal an die Grenzen von Geschmack und Moral. Bam Magera und „Jersey Shore“, anyone? Das kann Youtube heute um Längen besser.

Oft genug war der Sender seiner Zeit auch voraus. Musiker und Marken, die sich beiläufig bei „The Hills“ präsentieren durften, kündigten das moderne Influencer-Business an. Die gefühlten Millionen von Datingshows wie „Dismissed“, „Next!“, „Taildaters“ und „Room Raiders“, die zunehmend an die Stelle von Chartshows traten, waren die Vorboten von Tinder: ein analoger, ewiger Reigen des Sich-Anpreisens und Bewertet-Werdens. Und Musikvideos gibt es ja bis heute.

Fernsehen für alte Leute wie mich

Als Teenager hat MTV mich unterhalten und weit über meinen Musikgeschmack hinaus geprägt. Auf einer Mottoparty namens „Helden der Kindheit“ vor zwei Jahren war ich, obwohl ich mich nicht als Frau bezeichne, als Jane Lane aus „Daria“ unterwegs. In der Kunst und in der Freundschaft gibt es keine Kompromisse! Auch wenn man mal falsch liegen kann. Das hat sie mir beigebracht.

Und was meine Vorliebe für Hip-Hop-Videos über meine Identität aussagt, habe ich erst später verstanden. Nein, es geht nicht um den Glamour, das Mackergehabe und auch nicht um als verfügbar inszenierte Frauen, auch wenn all das zugegebenermaßen nice anzuschauen war. Was mir gefiel, war das Erfolgsversprechen darin, dem so viele Millennials auf den Leim gegangen sind: Je mehr ihr hustlet und grindet, desto höher schafft ihr es hinaus. Egal, mit welchen Voraussetzungen ihr geboren wurdet – wenn ihr die Straßen entlangstolziert wie „Independent Women“ und euch selbst treu bleibt, dann gehört sie euch, die Welt. Als Teenager war mir klar: Das selbstbestimmte, artsy, aufregende Leben, von dem MTV mir erzählte, würde ich mir holen. Gleich am Freitagnachmittag nach der kirchlichen Jugendgruppe.

Wer allerdings heute zwischen zwölf und 20 Jahre alt ist, dem hat MTV nichts mehr zu sagen. Call-In-Shows und „Grüße an alle, die mich kennen“ braucht in Zeiten von Snapchat und TikTok kein Mensch mehr. Jugendliche leben heute nicht mehr auf MTV, sondern zu großen Teilen im Netz. Dort sind Millionen guter und schlechter Vorbilder für sie verfügbar – und ich finde, sie wählen sie klüger, als ich das tat. Die sechzehnjährige Greta Thunberg reist (mit dem Zug) um die Welt, um mit Millionen Jugendlichen für das Eindämmen des Klimawandels zu kämpfen. Musiker*innen wie Lil Peep (Friede seiner Seele) und Billie Eilish sprechen unerschrocken über psychische Erkrankungen und machen ihre innere Düsternis zu Kunst, ohne dabei so exhibitionistisch und gewaltaffin zu sein wie Marilyn Manson, Trent Reznor oder Eminem. Und dass mit „Druck“ auf Youtube eine öffentlich-rechtlich produzierte Serie cool wird, in der ein Transmann zu den Hauptfiguren gehört und zum Schwarm eines anderen Protagonisten wird, zeigt, wie viel großartiger Wandel in nur zehn Jahren stattfinden kann.

Auf MTV ist von alledem keine Spur. Der menschengemachte Klimawandel und das Artensterben finden dort ebensowenig statt wie Cloudrap oder Jugendaktivismus. Was für junge Leute immer mehr selbstverständlich ist – dass Menschen mehr sind als nur ihr Aussehen, ihr Migrationshintergrund, ihre Religion oder ihre Geschlechtsidentität – hat der Sender nicht einmal im Programm. Stattdessen läuft „16 and pregnant“, obwohl die Zahl der Teenagerschwangerschaften in Deutschland seit Jahren rückläufig ist. MTV hat keine Antworten, kein Angebot für das, was die sogenannte Generation Z bewegt. Der Sender hat hat sein Update verpasst und macht jetzt Fernsehen für alte Leute. So wie mich.

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