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Mädchen, warum kennt ihr eure Vulven schlechter als unsere Penisse?

Foto: Photocase Bearbeitung: jetzt

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Liebe Mädchen,

im Sexualkundeunterricht gab es ja viele seltsame Momente. Doch einer war für mich besonders komisch: Unsere Lehrerin empfahl euch Mädchen, euch daheim mal mit einem Spiegel hinzusetzen und eure Vulva genau anzuschauen, damit ihr wisst, wie sie aussieht. Die anderen Jungs und ich konnten das nicht nachvollziehen. Denn wir wussten in der Pubertät schon sehr genau, wie unser Penis aussieht. Von oben, von unten, von links, von rechts, in jedem Zustand.

Schon bei kleinen Jungs ist die Faszination für das, was da zwischen den Beinen so rumbaumelt, recht ausgeprägt. Da kann man dran ziehen, damit schwingen, oder es einfach nur betrachten. Mit der Zeit lässt die Anziehungskraft unserers Penis auf uns Gott sei Dank etwas nach. Aber: Wir kennen ihn und unsere Hoden mittlerweile so gut wie unseren linken Arm.

Interessiert euch eure Vulva schlicht und ergreifend nicht?

Und auch ihr Mädchen wisst, wie die Penisse eurer Sexpartner aussehen. Ich erinnere mich an viele Szenen aus „Sex and the City“, in denen en détail über Krümmungswinkel, Größe und Aderstruktur gesprochen wurde. Von Freundinnen weiß ich, dass diese Gespräche nicht nur im Hirn von Drehbuchautor*innen stattfinden, sondern in bierseliger Stimmung auch im echten Leben vorkommen. 

Die eigene Vulva dagegen ist anscheinend optisch für sehr viele von euch vollkommen unerforschtes Gebiet. Neulich hat ja auch eine von euch darüber geschrieben, dass sie einen Gipsabdruck ihrer eigenen Vulva anfertigen ließ. Darin standen die Sätze: „Mich mit einem Spiegel zwischen den Beinen ganz genau anzuschauen, hatte ich bisher vermieden. Bis auf den Frontalblick in den Badezimmerspiegel war mir das Aussehen meines eigenen Geschlechtsteils fremd.“

Das hat mich irritiert. Und ich frage mich deshalb: Ist das ein Einzelfall oder geht das vielen von euch so? Habt ihr die Sexualkunde-Hausaufgabe eurer Lehrer*innen nicht gemacht, den Spiegel nie benutzt, um diesen wichtigen Teil eures Körpers genau zu betrachten? Wisst ihr bis heute nicht wirklich, wie er aussieht? Oder habt ihr euch seit eurem 14. Lebensjahr nicht mehr über die weitere Entwicklung eurer Vulva informiert? 

Zugegeben, wir haben es dabei auch leichter: einfach Hose auf, Kopf nach unten richten, fertig. Aber mit einem Spiegel ist das bei euch doch auch kein riesiger Aufwand. Warum macht ihr das nicht einfach? Ist die Vorstellung, sich nackt vor den Spiegel zu setzen, so seltsam? Habt ihr Angst, dass euch das, was ihr seht, nicht gefällt? Oder interessiert euch eure Vulva schlicht und ergreifend nicht?

Einen Schönheitswettbewerb mit unserem Genital müsstet ihr auf jeden Fall nicht scheuen. Denn Vulven sind auch sehr schön, das können wir euch versichern. Wir wissen schließlich sehr gut, wie sie aussehen – spätestens nach dem ersten Oralverkehr.

Deswegen, sagt doch mal liebe Mädels: Warum kennt ihr den Penis eures Sexpartners oft besser als die eigene Vulva? 

Eure Jungs

Die Mädchenantwort:

Liebe Jungs,

als eure Frage neulich in der Konferenz aufkam, waren wir Frauen erst mal ein bisschen irritiert. Also bitte, natürlich kennen wir unsere Vulva! Auf keinen Fall ist sie uns egal! Und klar wissen wir genau, wie sie aussieht! An diesen Handspiegel-Moment im Sexualkunde-Unterricht haben wir uns alle noch gut erinnert. Viele von uns haben damals den Rat unserer Lehrerin befolgt. Aber: Fast keine von uns konnte sagen, wann sie sich ihre Vulva seitdem mal wieder so richtig bewusst angeschaut hatte. Euren Penis kennen wir dagegen ziemlich gut. Wir sehen ihn, wenn ihr nackt seid, und beim Sex und allem was dazu gehört, haben wir heterosexuellen Frauen ihn in den vergangenen Jahren ziemlich gut kennengelernt. Danke also für eure Frage. Zeit, da mal ein bisschen drüber nachzudenken.

Bei der Recherche für diese Antwort habe ich im Internet ein Video gefunden, in dem Frauen ein (im Einverständnis aufgenommenes) Foto ihrer Vulva vorgelegt wird. Ihre Reaktionen werden gefilmt, und ich sag mal so: Begeisterung sieht anders aus. „Ich dachte, sie sei viel weniger faltig“, sagt eine, „In Pornos sind Vulven nie so faltig.“ Keine (!) der Frauen hatte ihre Vulva schon mal genau angeschaut, geschweige denn auf einem Foto gesehen. Völlig unerforschtes Gebiet. 

Der erste Grund, warum uns unsere Vulva fremder ist als euch euer Penis ist, ist offensichtlich: Wenn wir nackt vor dem Spiegel stehen, sehen wir ja nur den Venushügel, die äußeren Vulvalippen und vielleicht ein Stück der inneren Vulvalippen. Bei euch dagegen hängt alles sehr präsent und unübersehbar zwischen euren Beinen. 

Wahrscheinlich haben wir wirklich Angst, dass uns unsere Vulva nicht gefallen könnte

Immerhin nah dran ans Genau-zwischen-die-Beine-Schauen kommen diejenigen von uns, die sich im Intimbereich rasieren. Dann konzentrieren wir uns aber eher drauf, kein blutiges Gemetzel anzurichten, statt unter der Dusche in Ruhe die eigenen Vulvalippen zu inspizieren. Genauer hingucken tun wir, falls es mal juckt und brennt, wenn die Frauenärztin fragt: „Ist die Haut denn gerötet?“ Dann ist das aber zweckbezogen, und unser Fokus liegt darauf, einen möglichen Pilz zu bekämpfen. 

Feministische Projekte wie Gipsabdrücke, Illustrationen und Fotos von Vulven, die ihr ja auch angesprochen habt, wollen die Vulva sichtbar machen und aus der Tabuzone holen, in der sie sich zu lange befunden hat. Sie zeigen, dass eine Vulva eben in den seltensten Fällen aussieht wie im Porno und vor allem: dass das gut so ist. Dass sich keine Frau schämen muss für Falten oder lange Vulvalippen oder viel Intimbehaarung. Das Schlimme ist: Beim Nachdenken über eure Frage wird mir wieder einmal klar, dass wir das zumindest teilweise immer noch tun.

Eine der Frauen in dem gerade erwähnten Video sagt, dass es ihr schwerfalle zu akzeptieren, wie ihre Vulva aussieht. Deswegen trefft ihr einen wunden Punkt, wenn ihr fragt, ob wir Angst haben, dass uns das, was wir da im Spiegel sehen, nicht gefallen könnte. Denn ja, haben wir wahrscheinlich. Wir wissen, dass das dumm ist. Aber wir fürchten uns trotzdem davor, nicht auszusehen wie die Frauen, die ihr und auch wir aus Pornos kennen. Haben Angst, dem Ideal einmal mehr nicht zu entsprechen. Und das an einer so intimen Stelle, von der wir wollen, dass sie uns gefällt.

Ich selbst habe meine Vulva richtig lange nicht bewusst angeschaut

Ich sage hier ganz bewusst: dass sie UNS gefällt. Denn wir schämen uns gar nicht unbedingt vor euch. Wir hören ziemlich oft, dass ihr unsere Vulva sexy und schön findet. So ist das auch in dem Video: Da werden die Partner der Frauen dabei gefilmt, wie sie das Vulva-Foto ihrer Freundin anschauen. Überraschung: Sie finden im Gegensatz zu den Frauen super, was sie sehen. Das Problem ist also wohl unser Anspruch an uns selber.

Ich selbst habe meine Vulva richtig lange nicht bewusst angeschaut, zumindest nicht mit dem Spiegel, nicht aus der vollen Frontalperspektive. Erstens, weil ich einfach nicht dran gedacht habe. Alles ist gesund, alles funktioniert, das hat mir irgendwie gereicht. Auch von Sexpartern kamen nie Beschwerden, also musste meine Vulva ja zumindest ganz okay sein. Und zweitens wahrscheinlich auch, weil ich doch unbewusst keine Lust hatte, irgendwas zu sehen, was mir nicht gefallen könnte. Unwissenheit als Selbstschutz – eigentlich nie eine gute Idee.

Dann aber, als ich im Internet mal wieder auf eines dieser Vulva-Fotoprojekte stieß, wollte ich plötzlich wissen: Wie würde meine eigene eigentlich auf so einem Bild aussehen? Also habe ich doch endlich mal wieder den Handspiegel ausgepackt und hingeschaut. Ja, das fühlt sich im ersten Moment ein bisschen komisch an. Im zweiten dann aber verdammt gut und befreiend. Denn, so lapidar das klingt: Wissen ist Macht.

Deswegen kann ich am Ende nur appellieren an alle Frauen, die ihre Vulva schon lange nicht mehr richtig angeschaut haben: Tut es! Und an diejenigen, für die das schon lange normal ist: Sprecht darüber! Wir tun das immer noch viel zu selten. Denn es kann ja nicht angehen, dass uns euer Penis vertrauter ist als unsere eigene Vulva. 

Eure Mädchen

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