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„Medikamente haben meinen Bruder zerstört“

Émilie Gleason findet, dass wir von Autist*innen nicht verlangen sollten, dass sie sich unserer Gesellschaft anpassen.
Foto: Tim Douet

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Ted kennt die Standorte aller Bücher in der Bibliothek auswendig, hat für jeden Tag der Woche ein bestimmtes Hemd und bestellt mittags immer einen „Trippel-Tschiiis-Bacon-Mayo-Extra-Fritten und eine Cola“ im Fastfood-Restaurant. Doch als an der U-Bahn-Strecke gebaut und Teds gewohnter Arbeitsweg dadurch unterbrochen wird, setzt das eine Verkettung unglücklicher Ereignisse in Gang, und Ted steuert auf eine Katastrophe zu. 

„Ted, drôle de coco“ heißt die Graphic Novel der 27-jährigen Émilie Gleason, die 2019 bei einem internationalen Comicfestival mit dem Preis für das beste Debüt ausgezeichnet und in Frankreich hochgelobt wurde. Nun ist sie unter dem Titel „Trubel mit Ted“ im Verlag „Edition Moderne“ auf Deutsch erschienen. Die Hauptfigur basiert lose auf Émilies heute 25-jährigem Bruder, bei dem mit 15 Jahren Asperger diagnostiziert wurde, eine Variante des Autismus. Wie sehr sich Ted und Émilies Bruder ähneln und warum ihre Graphic Novel so bunt und wild ist, erzählt Émilie beim Video-Interview. Die Veröffentlichung in Frankreich, sagt sie zu Beginn, habe ihr Leben verändert: Sie kann jetzt vom Zeichnen leben und arbeitet aktuell an mehreren neuen Projekten.

jetzt: Fangen wir mal hinten an: In deinem Nachwort schreibst du, dass du es satt hattest, deinen Bruder als „Grinch“ zu sehen und deine Eltern ständig weinen zu hören – und darum dieses Buch geschrieben hast. Kannst du die Situation damals genauer beschreiben? 

Émilie Gleason: Ich war noch an der Kunsthochschule und suchte nach einem Diplomprojekt. Gleichzeitig hatte mein Bruder eine schlimme Krise, es ging ihm schlecht und er war oft aggressiv. Für meine Mutter war das schrecklich, sie rief mich täglich an und weinte. Ich wurde wütend auf meinen Bruder, ich habe ihn als das Problem gesehen und hatte das Gefühl, dass er meine Familie zerstört. Und dann habe ich entschieden, diese Wut in einen Comic zu übertragen, aber mich dabei in ihn hinein zu versetzen.

Wie hast du das gemacht? Hast du ihn gefragt, wie er die Welt sieht?

Er spricht nicht, oder nur über Filme und Kinos, ansonsten ist es unmöglich, ein Gespräch mit ihm zu führen. Also habe ich angefangen, Anekdoten zu zeichnen, an die ich mich erinnere, und habe versucht, mich in seine Art zu denken hinein zu versetzen. Vor allem in seine Logik – denn für ihn ist alles, was er macht, völlig logisch. Während der Arbeit habe ich oft gedacht, dass ich vielleicht völlig falsch liege und das Buch Mist ist. Aber ich habe regelmäßig Entwürfe auf meiner Webseite hochgeladen und bekam einige Nachrichten von autistischen Menschen, die schrieben: „Genau das erlebe ich jeden Tag.“ Das hat mir geholfen. 

Hast du ein Beispiel dafür, wie die Logik deines Bruders funktioniert?

Er weiß zum Beispiel, dass es Zeiten gibt, zu denen man einen Pulli trägt, und Zeiten, zu denen das nicht nötig ist. Er geht da nach dem Kalender. Wenn es März ist, aber fast 30 Grad hat, zieht er einen Pulli an. Der Klimawandel bringt seine Logik durcheinander, das ist schwierig.

Glaubst du, dass du ihn heute besser verstehst?

Oh ja, absolut! Das Buch zu machen war wie eine Erlösung und hat unsere Beziehung verbessert.

„Ich bekomme regelmäßig Nachrichten von Menschen, die ein autistisches Kind haben und es im Buch wiedererkennen“

Hat er es gelesen?

Ja, aber erst vergangenen Monat, zwei Jahre nach der Veröffentlichung in Frankreich. 

Und?

Er hat mir eine Sprachnachricht geschickt: „Es ist gut.“ Das war’s. (lacht) Er wollte eigentlich auch gar nicht, dass ich das Buch mache – ich hatte ihn vorher natürlich gefragt. Ich habe es dann aber trotzdem gemacht, weil ich wusste, dass es wichtig ist. Jetzt bin ich froh, dass er es gelesen hat und weiß, dass es nicht um ihn geht, sondern um Ted. Ich würde sagen, 85 Prozent des Buchs sind wahr, all die kleinen Anekdoten, die den Charakter ausmachen. Aber Ted lebt zum Beispiel alleine, mein Bruder kann das nicht, er lebt bei meinen Eltern. Und Ted spricht auch viel mehr als mein Bruder.

graphic novel emilie gleason galerie 2

Illustration: Émilie Gleason

Und deine Eltern?

Als ich noch am Buch gearbeitet habe, hat meine Mutter sich beschwert, dass die Mutter manchmal zu dick aussehen würde (lacht). Heute sind sie superstolz. Aber am unglaublichsten waren für mich die Reaktionen der Öffentlichkeit: Ich bekomme bis heute regelmäßig Nachrichten von Menschen, die ein autistisches Kind haben und es im Buch wiedererkennen. Die einzigen negativen Rückmeldungen kamen von Menschen mit Asperger.

Woran lag das, wenn die Rückmeldungen doch im Vorfeld so positiv waren?

Ich verstehe sie schon. Mein Stil ist für sie super anstrengend zu lesen, sehr viele Gesten, sehr viel Tempo und Farben. Und der Humor ist glaube ich auch nicht ihrer. 

Ich habe aus der Geschichte herausgelesen, dass du sehr kritisch gegenüber Medikamenten bist. Als Ted welche nehmen muss, machen sie ihn kaputt. 

Ja, Medikamente haben auch meinen Bruder zerstört, er hatte immer starke Nebenwirkungen. Letztlich haben sie ihm seine Unabhängigkeit genommen und dafür gesorgt, dass er sich zurückentwickelt hat. Er hat seine Diagnose erst mit 15 bekommen, und die Ärzte haben damals alles mögliche gesagt: Asperger sei nur eine Mode aus den USA, mein Bruder sei bipolar, mein Bruder sei nur schüchtern und so weiter. Das macht mich immer noch wütend. Heute ist es zum Glück besser, es ist eine anerkannte Diagnose und es gibt Spezialisten, die sich mit Asperger beschäftigen. Meine Eltern haben für meinen Bruder einen gefunden, außerdem geht er zur Therapie. Medikamente nimmt er keine mehr, außer Melatonin, weil er nicht gut einschlafen kann.

Ted hat eine Schwester, die häufig genervt von ihm ist. Wie viel von dir steckt in ihr?

Oh, im Vergleich zu mir ist sie supernett (lacht)! Aber ja, ich war wie sie, bevor ich das Buch gemacht habe: Ich habe meinen Bruder nicht verstanden und immer nur das Schlechte gesehen. Auf der anderen Seite ist Teds Schwester die einzige, die nicht versucht, ihn zu brechen, ihn „normal“ zu machen. 

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Illustration: Émilie Gleason

Ted sieht sehr speziell aus, er hat breite, hochgezogene Schultern, einen winzigen Kopf, lange, dünne Beine. Wieso hast du ihn so gezeichnet?

So sieht mein Bruder aus! Starke Schultern, kein Gesichtsausdruck, zwei Meter groß. Und ich wollte vor allem den Körper sprechen lassen, nicht das Gesicht. Die hochgezogenen Schultern sollen zeigen, dass er sich nie wohlfühlt, die langen Beine wackeln oft, er rennt die ganze Zeit, weil er immer aus Situationen flüchtet. 

Und alles um ihn herum wirkt sehr chaotisch und wild. Glaubst du, dass er die Welt so wahrnimmt? 

Ja, ich denke, auf ihn wirkt alles sehr chaotisch, es wäre besser für ihn, in einem weißen Quadrat zu leben. Darum ist der Störfaktor in seiner Routine – die Metro, die nicht mehr fährt – wie eine Bombe, die einschlägt. Ab diesem Zeitpunkt fällt alles auseinander. 

Das Buch ist sehr bunt, stehen die vielen Farben auch für Chaos? 

Vor allem liebe ich Farben einfach! Aber ich wollte auch eine Balance herstellen: Es ist eine traurige Geschichte, aber die wollte ich nicht auch noch in traurige Farben erzählen. In einigen Buchläden haben sie das Buch übrigens in die Kinderabteilung einsortiert, weil es so bunt ist. Darüber habe ich sehr gelacht. 

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Illustration: Émilie Gleason

Ted verliebt sich in Mariam, eine Seniorin über 70. Ist das auch eine wahre Geschichte?

Im ersten Entwurf war Mariam eine Teenagerin, die in einer Rockband spielt, aber das war mir nicht überraschend genug. Und eine der Besonderheiten meines Bruders ist, dass er sich früher in jede Frau verliebt hat, die ihn einfach nur an der Schulter berührt und „Hey, wie geht’s dir?“ gesagt hat. Darum war er in alle Freundinnen meiner Mutter verliebt, was sehr süß war. Mit Mariam konnte ich zeigen, dass das Alter für Ted nicht wichtig ist. Er verliebt sich in Menschen, wenn sie freundlich sind.

Sexualität spielt in der Geschichte auch eine große Rolle, aber Ted nimmt sie ganz anders wahr als wir, oder?

Ja, das kenne ich so von meinem Bruder: Sexualität ist für ihn etwas ganz Seltsames, er weiß zum Beispiel nicht, wie man jemanden anbaggert. Und ich kann das verstehen! Das ist ja nicht angeboren, wir müssen es erst lernen. In einer Szene begegnet Ted einem trans Mann und damit wollte ich zeigen, dass er auch das Konzept von „Gender“ nicht versteht. Er geht nur nach Merkmalen: Frauen haben Brüste, wer Brüste hat, ist eine Frau. 

Die meisten Menschen, denen Ted begegnet, behandeln ihn nicht gut. Sie finden ihn komisch, reden über ihn, statt mit ihm. Hast du das bei deinem Bruder auch so mitbekommen?

Ja, es war mir sehr wichtig zu zeigen, dass wir Autisten nicht so behandeln, wie sie behandelt werden sollten. Wir wollen sie nicht in die Gesellschaft inkludieren, sondern verlangen, dass sie das selbst tun. Dabei haben wir so viele seltsame Normen und Handlungen, die sie nicht verstehen können. Mein Bruder hat oft gefragt, wieso wir uns in Frankreich zur Begrüßung auf die Wangen küssen, und die einzige Antwort, die wir geben konnten, war: „Weil man das immer schon so gemacht hat“.

Dann ist es für ihn ja von Vorteil, dass von Wangenküssen gerade abgeraten wird …

Ja, aber jetzt versteht er nicht, warum wir es auf einmal nicht mehr machen dürfen!

Was würde das Leben für Menschen wie deinen Bruder oder Ted leichter machen?

Einfach mehr Empathie und Mitgefühl. Wir neigen zu sehr dazu, dass auszuradieren, um uns individuell ausleben zu können. 

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