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So prägt Südafrika die globale Musikindustrie

Der Sänger und Musikproduzent Mbuzeni Mkhize ist einer der Macher von Jerusalema.
Foto: Privat

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In einer Zeit, in der Menschen auf der ganzen Welt um ihre Existenzen bangen, in der mehr als eine Million Infizierte an oder mit COVID-19 gestorben sind und sich persönliche Freiheiten dem Gesundheitsschutz anderer Menschen unterordnen müssen, genau in dieser Zeit springen gut gelaunte Menschen weltweit mit aerosolsicherem Hygieneabstand von einem Bein aufs andere, drehen sich geduckt um die eigene Achse und halten dabei oft ihr Mittagessen in der Hand. „Jerusalema“, so heißt das südafrikanische Lied, zu dem sie alle tanzen, treibt tiefe Risse in die musikalische Einbahnstraße, die über viele Jahre aus den USA und Europa nach Afrika führte.

Social-Media-Abstinenzler fragen sich zurecht: Was ist denn hier los? Die Erklärung in Kurzform: Im Februar veröffentlichte eine Gruppe angolanischer Jugendlicher ein Video, auf dem sie mit Mittagessen in der Hand zum Jerusalema-Song des südafrikanischen Diskjockeys Master KG tanzten. Daraus entwickelte sich die Jerusalema-Dance-Challenge, der Groß und Klein, Alt und Jung folgen, indem sie nach angolanischem Vorbild zum selben südafrikanischen Rhythmus tanzen und Videos davon in den sozialen Medien veröffentlichen. Allein auf Youtube zählt das Musikvideo inzwischen 173 Millionen Aufrufe. Addiert man die zehn erfolgreichsten Videos vom Jerusalema-Dance beziehungsweise weiteren Veröffentlichungen des Songs hinzu, kommt man auf weit mehr als 300 Millionen Nutzer (Stand 7. Oktober 2020), von denen viele oft zum ersten Mal südafrikanische Musik hören.

Der Sänger und Musikproduzent Mbuzeni Mkhize ist einer der Macher von Jerusalema. Von den ersten Textzeilen bis zur finalen Tonaufnahme unterstützte der 33-Jährige den Hauptproduzenten Master KG und Sängerin Nomcebo im Tonstudio. Nun arbeitet Mkhize gerade an seinem nächsten vielversprechenden Projekt: Ein gemeinsamer Song mit niemand geringerem als US-Megastar Rihanna.

„Ich bin total überrascht von Jerusalemas Erfolg“, gesteht Mkhize gegenüber jetzt und sieht zwei Gründe für das Jerusalema-Phänomen. „Nomcebo ist wirklich extrem talentiert und hat eine einzigartige Stimme.“ Zudem spiele die Pandemie eine große Rolle: „Der Song hat uns in einer schwierigen Zeit vereint und gab uns Hoffnung. Insofern hat Corona Jerusalema natürlich sehr gepusht.“

Das Lied klingt nicht nur nach Gospel. Mit tiefer Stimme bittet Sängerin Nomcebo um göttliche Führung und besingt die Heimat Jerusalem. Ganz schön biblisch für deutsche Verhältnisse. Wirkt aber, denn ihr Gesang geht unter die Haut. Dazu ein mitreißender Rhythmus und mainstreamfähige House-Klänge, fertig ist ein Ohrwurm par excellence. Wer in Jerusalema nur einen albernen viralen Hit vermutet, der irrt. Denn hinter dem glänzenden Aushängeschild der südafrikanischen Musikindustrie verbergen sich zahlreiche weitere Künstlerinnen und Künstler, die auf und hinter den internationalen Bühnen zunehmend für Aufmerksamkeit für das Lied sorgen.

Jerusalema ist nur das Epizentrum eines musikalischen Bebens

Dabei lag der Stellenwert afrikanischer Musik über viele Jahre meist irgendwo zwischen dem Geheimtipp auf Seite 21 im Nischenkulturmagazin und den „Musik aus aller Welt“-Radioprogrammen. Nur wenige afrikanische Songs, wie „Pata Pata“ von der südafrikanischen Miriam Makeba oder „Sodade“ von der kapverdischen Cesaria Évora schafften es in den westlichen Mainstream. Immer wieder wurde bei afrikanischen Künstlern auch geklaut. Dabei beging Shakira womöglich den wohl erfolgreichsten Diebstahl.

Zur Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika, der ersten WM auf afrikanischem Boden, entschied der Fußballweltverband FIFA, statt einer südafrikanischen Musikerin, den kolumbianischen Popstar Shakira den offiziellen WM-Song singen zu lassen. Auf einer Pressekonferenz erzählte Shakira dann, dass Text und Melodie für „Waka Waka“ sie ganz plötzlich überkommen hätten, als sie auf ihrer Farm gerade aus der Scheune gekommen sei. Es ist jedoch sehr gut möglich, dass der nicht-afrikanische Superstar den älteren amerunischen Song „Zangalewa“ einfach nur kopierte, um ihn dann als eigenes Werk mit afrikanischem Klang zu vermarkten. Nachdem erster Unmut zu hören war, einigten sich Shakira, Sony und die Urheber von „Zangalewa“ 2010 schnell auf einen außergerichtlichen Vergleich und hielten das Thema erfolgreich aus den Schlagzeilen heraus. Nichts hätte die damaligen musikalischen Machtverhältnisse besser illustrieren können.

Der Erfolg der Dancehall-Afrobeats-Melange „One Dance“ rüttelte die Musikwelt kräftig durch

In den vergangenen zehn Jahren gerieten die tektonischen Platten der globalen Musikindustrie dann in Bewegung. Master KGs Jerusalema bildet im Jahr 2020 das Epizentrum der Stoßwellen, Bewegung geht aber auch von anderen afrikanischen Künstlern aus. Neben Südafrikanern erklimmen vor allem nigerianische Afrobeats-Vertreter wie Burna Boy, Wizkid und Davido die westlichen Charts. Afrobeats gibt dem Sound einen Namen, der vom Sammeltaxi bis hin zum Nachtclub überall in Westafrika zu hören ist. Im Afrobeats – oft auch als Afrofusion oder Afropop bezeichnet – kommen Hip-Hop, R&B, Dancehall und regionale Klänge zu einem sehr tanzbaren Musikcocktail zusammen. „Es gibt so einen Appetit auf Afrika. Endlich ist die Welt aufgewacht und hat realisiert, dass da ein wunderschöner Kontinent ist, den sie ignoriert hat. Aber das Beste ist, dass Afrika uns nicht braucht. Afrobeats braucht uns nicht. Wir brauchen sie“, ordnet das ehemalige britische Topmodel Naomi Campbell die Zeitenwende in gar postkoloniale Dimensionen ein.

Die Genese des Afrika-Trends erlebte zwei musikalische Meilensteine. Der US-Rapper Drake war bei nicht der Erste, als er 2016 eine Kooperation mit Afrobeats-Star Wizkid einging. Aber der Erfolg der Dancehall-Afrobeats-Melange „One Dance“ rüttelte die Musikwelt kräftig durch. In den USA und zahlreichen europäischen Ländern – darunter Deutschland – dominierte „One Dance“ die Charts.

Mit der Veröffentlichung von Beyoncés „The Gift“-Album folgte 2019 das nächste musikalische Beben. Auf einem der meistbeachtesten Alben des Planeten zählt die Interpretenliste ganze 13 Musikerinnen und Musiker aus Subsahara-Afrika. Im Song „My Power“ vereinen sich die drei vielversprechende Südafrikanerinnen und Südafrikaner Moonchild Sanelly, Busiswa und DJ Lag.

Musik so vielfältig wie Südafrika selbst

Mit „My Power“ schaffte es das südafrikanische Gqom-Genre zu Beyoncé auf die ganz große Musikbühne und deutete nicht zum ersten Mal an, dass die südafrikanischen Landesgrenzen für die aggressiven, rohen Gqom-Rythmen zu eng gezogen sind. Ähnlich wie beim Techno zieht sich beim Gqom meist ein Rhythmus- und Klangmuster durch den Song. Dazu harte Bässe, viel Offbeat und eine düstere Stimmung. Es hat etwas von apokalyptischer, elektronischer Marschmusik. In London ist Gqom bereits eingeschlagen. Gqom-Pioneer DJ Lag legte aber auch schon im Berliner Techno-Mekka Berghain auf.

Moonchild Sanelly ist in wohl jeder Hinsicht die Auffälligste aus dem „My Power“-Trio von Beyoncés Album. Die selbsternannte „Anwältin für weibliche Orgasmen“ rappt mit blauen Afro-Zöpfen und provokanten Texten gegen die sexuelle Diskriminierung von Frauen an. Ob ihr ständiges zur Schau gestelltes Twerking dem höheren Zweck oder dem Instagram-Ruhm dienen soll, bleibt dahingestellt. Über ihre Albumneuerscheinung „Nüdes“ berichtete selbst der britische „The Guardian“.

Die Gegensätze zur Musik von Jerusalema-Produzent Mbuzeni Mkhize könnten größer nicht sein. In der Vielfalt liegt offenbar das Erfolgsgeheimnis südafrikanischer Musik. Anstelle des aggressiven Gqom-Bassteppichs folgt Mkhizes Sound dem typischen Maskandi-Schema: Schnell gezupfte Gitarrensaiten und Chorgesang begleiten seinen balladenhaften Zulu-Gesang. „Maskandi ist eine traditionelle Zulu-Musik. Wir singen über Themen, die die Menschen in ihrem Alltag bewegen“, erklärt der Sänger jetzt. „In meinem Lied „Babulala Abantu“ rufe ich zum Beispiel dazu auf, die alltägliche Gewalt gegen Frauen endlich zu stoppen.“

Die Kooperation mit Rihanna habe sich vor zwei Jahren angebahnt. „Bei einem Konzert in Istanbul habe ich meine Maskandi-Coverversion von Rihannas „Diamonds“ gespielt“, erinnert sich Mkhize. „Dort hat mich einer von Rihannas Agenten gesehen und sie darüber informiert.“ Für Rihannas neues Album „R9“ nehmen die beiden nun einen Maskandi-Remix von „Diamonds“ auf. „Wamuhle“, zu Deutsch „Du bist wunderschön“, wird das Lied heißen. Wie gut „Wamuhle“ beim US-amerikanischen Publikum ankommt, erfahren wir wohl in wenigen Wochen, denn Mkhize glaubt, dass Rihannas neues Album Ende Oktober erscheinen wird.

Auf einen internationalen Hit muss der südafrikanische House-DJ Black Coffee nicht mehr warten. Sein größter Erfolg „Drive“ entsprang einer Kooperation mit David Guetta. Aber auch mit Alicia Keys und Usher machte er schon Musik. „Ich möchte, dass die Welt weiß, dass wir (Afrikaner, Anm. der Red.) fähig sind, auf den Weltbühnen zu stehen. Deshalb versuche ich, mit den großen Künstlern unserer Zeit zusammenzuarbeiten und dabei aber den Sound beizubehalten, für den ich stehe. Ich möchte uns eine Stimme geben“, erklärte Black Coffee seine musikalische Mission in der US-amerikanischen Daily Show.

Wir erleben eine globale Demokratisierung des Musikangebots

Black Coffee, Master KG und Co. reißen die musikalische Einbahnstraße ein, die von den USA und Europa bis nach Südafrika führt. Das Internet und die sozialen Medien helfen dabei, stattdessen eine zweispurige Straße aufzubauen. „Durch das Internet haben Menschen Zugang zu unserer Musik, ohne uns live zu sehen oder CDs kaufen zu müssen. Das hat der südafrikanische Musik wirklich sehr geholfen“, meint Jerusalema-Mitproduzent Mkhize gegenüber jetzt. Die sozialen Medien würden seine Arbeit als Musiker zudem vereinfachen. „Durch Facebook und Instagram können wir Fans weltweit einfacher erreichen und auch leichter gebucht werden“, erklärt Mkhize.

Jedes Mal, wenn der Jerusalema-Dance in unserem Newsfeed aufpoppt oder wir auf das Youtube-Video klicken, prägt sich also eine globale Demokratisierung des Musikangebots tiefer in den Datenspeicher von Facebook und Google ein. Die klassischen Radiostationen haben ihre Macht als Gatekeeper längst eingebüßt. Die Musikfernsehsender MTV und VIVA sind nicht mehr relevant für viele Menschen. Afrikanische Klicks sind online genauso viel wert wie europäische Klicks. Musik überschreitet nationale und vermeintliche kulturelle Grenzen inzwischen mit etwa 25 Megabit pro Sekunde.

Und so werden das schwedische Krankenhauspersonal gemeinsam mit dem kanadische Kirchenteam beim Jerusalema-Dance zu Aktivisten einer friedlichen, digitalen Musikrevolution im Zeichen des Weltbürgertums.

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