Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Veronika Kracher recherchierte jahrelang in Incel-Foren

Foto: Dennis Pesch

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Wie ist es, als Frau in einem explizit frauenfeindlichen Umfeld zu recherchieren? Die Autorin und Journalistin Veronika Kracher hat das jahrelang getan. Über jene vorwiegend jungen Männer, die sich als „Incels“ bezeichnen – der Begriff ist ein Kofferwort für „Involuntary Celibates“, was übersetzt „unfreiwillig im Zölibat Lebende“ heißt – hat die Wahl-Frankfurterin nun ein Sachbuch mit dem Titel „Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ geschrieben, das Ende Oktober im Ventil Verlag erschien.

Im Buch analysiert Kracher nicht nur die Ideologie und Charakteristika des Online-Phänomens, sondern setzt das Phänomen auch in einen popkulturellen sowie gesellschaftlichen Kontext. Dabei erfährt man nicht nur, welche Rolle Computerspiele oder Filme bzw. Serien für die Etablierung des Phänomens spielen und spielten, sondern auch, warum Misogynie so tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Wir sprachen mit der Autorin über die Gefahr von Echokammern, die psychische Belastung bei ihrer Recherche und warum die Frau das Feindbild der Incels ist.

jetzt: Für dein Buch hast du zahlreiche Incel-Foren analysiert. Wie hast du die Recherche dazu erlebt?

Veronika Kracher: Am Anfang war es sehr erschreckend und irritierend, da man ja sowohl mit einer Menge gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als auch mit einem erschütternden Selbsthass konfrontiert wird. Incels sprechen davon, dass niemand sie jemals lieben könne und bezeichnen sich selbst als „Untermensch“ oder „Abschaum“. An die Vergewaltigungsfantasien gewöhnt man sich irgendwann, man stumpft da leider aus Selbstschutz ab. Einige Sachen, vor allem sexuelle Gewalt gegen Kinder, verstören jedoch nachhaltig. Da ich selbst Erfahrungen mit schweren Depressionen und Suizidalität habe, sind Texte, in denen Incels ihren Selbsthass oder Suizid thematisieren, stellenweise relativ belastend, da sie an schlechten Tagen meine eigene Depression triggern. Andererseits macht mich deren Selbsthass auch wütend, da sie durch ihre Ideologie gewissermaßen selbst an ihrem Leid Schuld sind, aber Frauen dafür verantwortlich machen: Dieser Selbsthass geht in der Regel mit Frauenhass einher, da die Erlösung vom Leid „Sexlosigkeit“ und somit eine Glückserfahrung an weibliche Zuwendung geknüpft wird, man Frauen jedoch gleichermaßen abspricht, diese einem Incel entgegen bringen zu können.

Wie können wir uns einen durchschnittlichen Incel vorstellen?

Laut einer Umfrage des Forums incels.co stammen knapp 60 Prozent der User aus der Mittelschicht, 33 Prozent zählen sich zur „Lower Class“, der Rest zur Oberschicht. Die Mitglieder der Subkultur sind recht jung, laut der besagten Umfrage sind 68,2 Prozent der Befragten unter 25 Jahre alt, davon rund ein Drittel 18 bis 21 Jahre alt. Das schlägt sich auch in den Beschäftigungsverhältnissen nieder: Mehr als die Hälfte der User ist laut Selbstangabe Schüler oder Student, 30 Prozent gehen einer Lohnarbeit nach, etwas mehr als 20 Prozent spricht von sich als „NEET“, also „Not in employment, education or training“. Die Incel-Community ist mitnichten eine weiße Community, nur knapp über die Hälfte ist weiß. Ungefähr 45 Prozent der Nutzer stammen aus den USA und Kanada, 40 Prozent aus Europa. Wie viele davon aus Deutschland stammen, lässt sich schwer sagen, da die Boards größtenteils englischsprachig sind. Dies ist jedoch lediglich der Überblick aus dem Forum incels.co und stellt nur deren Community dar.

„Dass Frauen Incels den Sex verweigern, ist für sie eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“

Was sind typische Hauptcharakteristika eines Incels? 

Incels hängen der sogenannten „Blackpill“-Theorie an. Diese besagt, dass quasi die einzige Diskriminierungsform unserer Zeit der sogenannte „Lookismus“ ist, also die Unterdrückung aufgrund von unattraktivem Aussehen. Vor der sexuellen Revolution und dem Feminismus sei die Welt nach dem Prinzip des „Looksmatching“ aufgebaut gewesen: einem Mann war eine Frau seines „Attraktivitätslevels“ garantiert. Der Feminismus habe Frauen jedoch die freie Partnerwahl ermöglicht. Da alle Frauen von Natur aus hypergam, triebhaft und oberflächlich seien, begnügen sie sich laut der Theorie nun nicht mehr mit ihrem „Looksmatch“, sondern wollen alle nur mit „Chads“, ein Begriff, der Klischeezeichnungen von Gym-Bro-Männlichkeit umschreibt, schlafen. Diese machten ungefähr zwanzig Prozent der männlichen Bevölkerung aus, glauben Incels. Und naja, deshalb bleiben keine Frauen für die armen Incels mehr übrig – obwohl ihnen der Sex doch eigentlich zustehen sollte! Der ist für Incels nämlich ein Grundrecht wie Nahrung oder Wasser.

Was folgt aus dieser Logik?

Dass Frauen Incels den Sex verweigern und lieber mit Chads schlafen, ist für sie eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. So rechtfertigen Incels ihren Frauenhass, der stellenweise bis in den Femizid und den frauenfeindlichen Terrorakt, wie dem 1989 am polytechnischen Institut in Montréal, bei dem 14 Studentinnen getötet wurden, reicht.

„Junge Männer erfahren, dass sie hegemonialen Ansprüchen von Männlichkeit sowie sexuellem und finanziellem Erfolg nicht genügen“

Warum haben diese Männer denn keinen Hass auf die „Chads“?

Den gibt es durchaus, zum Beispiel sprach Alek Minassian (der 2018 bei einem Attentat in Toronto 10 Menschen tötete und 16 verletzte, AdR) davon „alle Chads und Stacys zu stürzen“, da Chads einem die Frauen ja „wegnehmen“. Dieser geht jedoch immer mit Neid und Bewunderung einher: Man will selbst die Rolle eines Chads einnehmen. Deswegen verschreiben sich zahlreiche Incels dem sogenannten „Looksmaxxing“, also der Verbesserung des Aussehens durch Sport, Mode oder plastische Chirurgie.

Weiß man, woher das Phänomen der Incels kommt?

Bei Incels fallen der gesellschaftlich ohnehin präsente Frauenhass und patriarchales Anspruchsdenken, die Vereinzelung und Entfremdung des Individuums im Neoliberalismus, und das Internet als Echokammer zusammen. Junge Männer erfahren, dass sie hegemonialen Ansprüchen von Männlichkeit sowie sexuellem und finanziellem Erfolg nicht genügen. Aber anstatt das System und seine Auswirkungen auf das Subjekt in Frage zu stellen, verlagern sie ihren Selbsthass in Form der autoritären Revolte auf Frauen, die sind nämlich prädisponiertes Feindbild und etablierter Sündenbock. Und online bestätigt man sich dann selbst in diesem Denken.

„Trotz Bundeskanzlerin sollten wir uns nicht vorlügen, dass Deutschland ein antisexistisches Land wäre“

Incels werden in Nordamerika als Gefahr für die innere Sicherheit eingestuft, während man in der deutschen Öffentlichkeit davon wenig mitbekommt. Wieso wird das Thema hier so anders wahrgenommen?

Trotz Bundeskanzlerin sollten wir uns nicht vorlügen, dass Deutschland ein antisexistisches Land wäre. Gewalt gegen Frauen hat auch hier System. Diese Verhältnisse sind auf Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen aufgebaut. Männlichkeit, die eine gesellschaftliche Norm darstellt, konstituiert sich über die Abwertung des Nicht-Männlichen, also von Frauen und queeren Menschen.

In Deutschland wurde insbesondere im Zusammenhang mit dem antisemitisch-motivierten Anschlag von Halle 2019 erstmals in einer breiteren Öffentlichkeit über „Incels“ gesprochen; der Täter stand der Ideologie nahe. Wie wichtig ist es, dass Menschen – auch in Behörden – das Phänomen kennen und verstehen?

Das ist zwingend notwendig! Der Prozess zum Anschlag von Halle ist ein Armutszeugnis und ein Schlag ins Gesicht der Opfer! Er zeigt auch, wie ignorant die Behörden nach wie vor der antisemitischen Bedrohungslage gegenüber sind, der die Jüdinnen und Juden in Deutschland immer noch ausgesetzt sind. Auch die Behörden spiegeln ja unsere patriarchalen Verhältnisse wieder. Da muss sich, wie auch bei dem strukturellen Rassismus in der Polizei, sehr viel tun.

Wie beurteilst du nach deinen Recherchen das Gefahrenpotential unter Incels?

Ich würde sagen, dass nur ein Bruchteil der User auf den Foren tatsächlich auch zum Terrorakt bereit sind. Aber ihr Frauenhass äußert sich ja auch schon auf niedrigschwelliger Ebene, zum Beispiel durch Gewalt gegen Frauen online oder auch auf der Straße, beispielsweise, indem man einem Mädchen nachts folgt, um ihr Angst einzujagen. Bei diesen Foren handelt es sich ja um Echokammern, in denen sich die User gegenseitig hochschaukeln und radikalisieren.

„Diese Täter-Opfer-Umkehr dient als Mittel, die eigene Gewalt zu legitimieren“

Bleiben wir hier mal bei der konkreten Verknüpfung von Incel-Ideologie und Feminismus: Wie verhält es sich da?

Incels sind, wie andere maskulinistische Gruppen auch, eine regressive Reaktion auf den Feminismus. Anstatt zu realisieren, dass Kritik am herrschenden Geschlechterverhältnis auch Männern zugute kommen könnte, da herrschende Geschlechtervorstellungen auch Jungen und Männern gegenüber immensen psychischen Schaden zufügen, bekämpft man lieber im Männerbund gemeinsam diese „aufmüpfigen Weiber“. Selbst Incels, die ja immer wieder betonen, dass sie darunter leiden, keine „Chads“ zu sein, würden niemals auf die Idee kommen, diese herrschenden Vorstellungen von Männlichkeit oder das Patriarchat zu hinterfragen; letztendlich profitieren sie durch die Abwertung von Frauen doch mehr, als sie unter toxischen Männlichkeitsvorstellungen leiden. Und für solche Männer gibt es nichts Schlimmeres, als einer Frau ähnlich oder ihr gar solidarisch gegenüber zu sein; die Frau muss immer wieder durch Sexismus und Misogynie „zur Frau gemacht“ werden, wie Simone de Beauvoir schon vor siebzig Jahren konstatiert hat.

Wie entscheidend ist dabei die Opfer-Rolle, die sich die Incels selbst zuschreiben?

Diese Täter-Opfer-Umkehr dient als Mittel, die eigene Gewalt zu legitimieren. Dies haben wir nicht nur bei Incels, sondern bei autoritären Bewegungen generell. Zum Beispiel sah sich der Attentäter von Christchurch weniger als rassistischer Terrorist, sondern als jemand, der die weiße Rasse vor der sogenannten „Umvolkung“ rettet. Incels sehen sich als Opfer einer widernatürlichen feministischen Gesellschaft, die ihnen das eigentlich naturgegebene Recht auf Sex verwehrt. Es sind laut ihnen die Frauen, und diese sogenannte „feministisch-jüdische Gesellschaft“, die im Unrecht sind. So rechtfertigt man das eigene Handeln: Man sei einer der wenigen Erleuchteten, und man habe die Aufgabe, die Welt aufzuwecken. Deswegen auch die Manifeste, die solche Männer hinterlassen: Man will aufzeigen, dass man ein Held, ein Messias, die reaktionäre Avantgarde ist, ein Soldat für eine in deren Augen richtige Welt.

Wie können es Incels schaffen, aus der eigenen Opfer-Rolle auszusteigen, also aufzuhören, Incels zu sein?

Ich habe in meinem Buch ein Kapitel, das sich ausschließlich mit dem Ausstieg aus der Szene beschäftigt. Es gibt auf Reddit ein Subreddit namens „IncelExit“, auf dem ausstiegswillige Incels um Rat suchen, andere User*innen geben ihnen Tipps und Hilfestellungen. Dass es dieses Subreddit gibt, zeigt aber auch auf, dass man diese Szene nicht so einfach verlassen kann; sie weist durchaus Strukturen eines Kultes oder einer Sekte auf. Was jedem einzelnen ausstiegswilligen Incel angeraten wird, ist die Therapie: Eine Szene, die ihren Mitgliedern permanent vermittelt, sie seien es, beispielsweise aufgrund fehlender Attraktivität, nicht wert, jemals geliebt zu werden, und die nur ein toxischer Sumpf ist, fügt langfristigen psychischen Schaden zu. Alleine schon deshalb sollte man darauf achten, dass Freunde, Söhne, oder Brüder nicht in diese Szene abrutschen – von der potentiellen Gewalt, die sie anderen antun könnten, ganz zu schweigen.

  • teilen
  • schließen