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„Er gab mir permanent das Gefühl, nichts wert zu sein”

Laut einer Studie aus dem Jahr 2011 waren über 44  Prozent der Betroffenen von psychischer Gewalt Frauen und etwa 28  Prozent Männer.
Illustration: FDE

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Trigger-Warnung: In diesem Text werden psychische Gewalt und  Missbrauch beschrieben. 

Manipulation, Demütigung, Beschimpfungen: Das gehörte in Janas* Beziehung zum Alltag. „Er vermittelte mir konstant das Gefühl, dass ich nicht gut genug für ihn sei“, erzählt sie. „Und ich glaubte ihm.“ Erst nach vier Jahren Beziehung realisierte sie, dass ihr damaliger Freund ihr psychische Gewalt antat. Denn im Gegensatz zu körperlicher Gewalt funktioniert psychische Gewalt oft subtil. Die Betroffenen sind sich deshalb oft lange gar nicht bewusst, dass sie Gewalt erleben – unter anderem, weil die Grenze zu normalen Beziehungsproblemen nicht immer zu erkennen ist.

„Psychische Gewalt ist mehr als gelegentliches Streiten“, sagt Bettina Zehetner. Sie ist psychosoziale Beraterin im Verein „Frauen* beraten Frauen*“, der unter anderem Frauen hilft, die Opfer von häuslicher Gewalt sind. „Sie zeichnet sich durch ihren längerfristigen, systematischen Charakter aus und ist ein Mittel, um Kontrolle über eine Person auszuüben.“ Psychische Gewalt kann sich ganz unterschiedlich äußern: Von Manipulation und Herabwürdigung über Isolation und Kontrolle bis zu Beschimpfung und Bedrohung. Die Opfer sind laut Zehetner überwiegend Frauen.

„Seine Bedürfnisse wurden zu meiner Priorität“

Zwar können auch Männer Opfer psychischer Gewalt werden. Zehetner sagt aber: „In unserer Gesellschaft sind es tendenziell Männer, die Frauen als Besitz betrachten und dementsprechend behandeln.“ Außerdem sei psychische Gewalt oft die Vorstufe von körperlichen und sexualisierten Gewaltformen – von denen in Beziehungen vor allem Frauen betroffen sind. 2019 waren 81 Prozent der Opfer von Gewalt in Beziehungen weiblich, auch in Bezug auf psychische Gewalt waren Frauen in einer Studie aus dem Jahr 2011 mit 44,6 Prozent häufiger betroffen als Männer mit 28,2 Prozent. Aber wie verlässlich diese Zahlen sind, ist schwer zu sagen – Expert*innen gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Zum einen, weil psychische Gewalt strafrechtlich schwer zu verfolgen ist – zum anderen, weil viele Betroffene nicht darüber sprechen.

Wie Zehetner erklärt, fangen Beziehungen, die irgendwann in Gewalt enden, oft sehr intensiv an – nach dem Motto „Wir beide gegen den Rest der Welt“. Das schlägt dann später in Isolation um. So auch bei Jana: „Im ersten Jahr habe ich meinen Freund angehimmelt“, erzählt sie. „Er war mein Lebensmittelpunkt und mein Universum.“ Der Kontakt zu ihren Freund*innen wurde immer weniger; wollte sie sich mit ihnen treffen, machte er ihr ein schlechtes Gewissen. „Seine Bedürfnisse wurden zu meiner Priorität. Ich weiß überhaupt nicht mehr, mit wem ich damals Zeit verbrachte und was ich für Hobbys hatte“, sagt sie heute.

Auch Anna* hat den Anfang ihrer Beziehung als sehr intensiv in Erinnerung: „Wir schwänzten ständig die Uni, weil wir nur noch Zeit zu zweit verbringen wollten“, erzählt sie. Doch auch ihr Freund wurde immer eifersüchtiger und versuchte immer mehr, sie zu kontrollieren. „Wenn ich unterwegs war, machte er mir Druck, dass ich nach Hause kommen solle“, sagt sie. „Und wenn ich mich anderen Menschen zugewandt habe, überschüttete er mich mit Liebe – aus Angst, ich würde sonst gehen.“ Wie Zehetner erklärt, kommen diese Verlustängste bei gewalttätigen Menschen häufig vor, da die im Kern meistens ein sehr schwaches Selbstwertgefühl haben. „Sie denken, dass sie verlassen werden, wenn ihre Partnerin ein gutes Selbstwertgefühl hat“, sagt sie. „Also versuchen sie, das Selbstwertgefühl ihrer Partnerin massiv zu mindern und durch Machtspielchen und Kontrolle ein Abhängigkeitsverhältnis herzustellen.“

Bei Anna eskalierte die Situation, als ihr Freund sie auf offener Straße festhielt und als „Schlampe“ beschimpfte. Danach entschuldigte er sich und versprach, dass er in Therapie gehen würde. „Ich dachte: jetzt wird alles besser“, sagt sie. Stattdessen wurde es aber nur schlimmer: Ihr Partner kritisierte Anna ständig, sagte, dass sie unfähig sei, sich um sich selbst zu kümmern, und redete ihr ein, dass ihre Freund*innen und Kolleg*innen sie gar nicht mögen würden. „Er sagte mir, dass er die einzige Person sei, die es überhaupt mit mir aushält“, erzählt Anna. „Dadurch bekam ich Angst, dass ich ohne ihn niemanden hätte.“ Dieser massive Verlust des Selbstbewusstseins ist laut Zehetner ein zentrales Merkmal einer Gewaltbeziehung: „Eine gute Beziehung sollte dazu beitragen, dass man sich toller, größer und stärker fühlt. Ist das nicht der Fall, dann stimmt etwas nicht.“

„Es fühlte sich an, als würde ich mich auflösen und er alles einnehmen“

Auch Jana hatte das Gefühl, dass ihr Freund immer mehr die Kontrolle über sie gewann. Sie trennte sich – schaffte es aber nicht, sich dauerhaft von ihm zu lösen: „Er sagte, ich würde sowieso nie einen neuen Freund finden. Als wir dann wieder zusammenkamen, wurde es richtig schlimm.“ Jeden Abend stritten sie sich, er beschimpfte und demütigte sie, auch vor gemeinsamen Freund*innen. Wenn sie dann weinte, machte er sich über sie lustig. „Er gab mir permanent das Gefühl, nichts wert zu sein“, sagt sie. „Das machte mich noch abhängiger von ihm – weil ich dachte, dass ich nur mit ihm etwas wert wäre.“

Nachdem erneut ein Streit eskaliert war, fuhr Jana zu einer Freundin – die das Verhalten ihres Freundes erstmals offen als psychische Gewalt benannte. „Zuerst habe ich ihn noch verteidigt“, erzählt Jana. „Als sie mich dann fragte, was denn so toll an ihm sei, fiel mir nichts ein.“ Schließlich begann sie eine Therapie. Dabei merkte sie, wie sehr sie sich in der Beziehung verloren hatte. „Es fühlte sich an, als würde ich mich auflösen und er alles einnehmen“, sagt Jana rückblickend. Sie trennte sich endgültig. Und auch Anna schaffte es vor allem durch die Hilfe von Freund*innen, sich aus der Beziehung zu lösen. „Sie haben mir aufgezeigt, wie ungesund unsere Beziehung war“, sagt sie. „Unterbewusst wusste ich das zwar – wahrhaben wollte ich es jedoch nicht.“

Auch Expertin Zehetner sagt, dass es essentiell sei, sich die Perspektive von Außenstehenden einzuholen, wenn man in einer Gewaltbeziehung steckt. Das Problem dabei: Sich selbst in so einer Beziehung zu verorten, ist sehr schambesetzt. „Vor allem Frauen denken, dass sie selbst daran Schuld wären, wenn sie schlecht behandelt werden“, erklärt Zehetner. „Sie fühlen sich dafür verantwortlich, dass die Beziehung schlecht läuft – auch, weil dem Partner zufolge ja alle Probleme bei der Frau liegen.“ Wichtig sei es außerdem, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen: „Wenn etwas in dir sagt, dass das, was dieser Mensch mit dir macht, nicht in Ordnung ist, dann stimmt das wahrscheinlich auch.“

Zehetner rät, sich bei Zweifeln an der eigenen Beziehung an eine Beratungsstelle zu wenden. „Es gibt auch Online-Beratungen, an die man sich anonym wenden kann“, sagt sie. „Dafür muss auch nicht klar sein, ob Gewalt vorliegt oder nicht – Betroffene können sich melden, sobald sie das Bedürfnis haben, über ihre Beziehung zu sprechen.“ Und auch Jana rät, Außenstehende zu Rat zu ziehen und die Gewalterfahrung nicht zu verharmlosen. „Wenn man selbst noch nicht in dieser Situation gesteckt hat, denkt man, Gewalt könne einem nicht passieren“, sagt sie. „Doch wenn man sich schon die Frage stellt, ob das normal ist oder ob man Gewalt erfährt, dann ist es wahrscheinlich auch Gewalt.“

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016

Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer: 0800 1239 900

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