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„Du siehst aus, als würdest du noch zur Schule gehen“

Foto: bit.it / photocase de

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Neulich war ich im Theater. Am Ende der Pause stand ich an meinem Platz, ich hab was in mein Notizbuch geschrieben. Da sprach mich eine Frau an: „Im Sitzen schreibt es sich doch bequemer.“ Und fragte dann weiter: „Sind Sie mit der Schule hier?“

So etwas passiert mir ziemlich oft. Und – es nervt. Erst seit kurzem werde ich nicht mehr nach dem Ausweis gefragt, wenn ich im Supermarkt eine Flasche Wein kaufe. Und daran, dass ich im Club meistens den Perso vorzeigen muss, habe ich mich schon lange gewöhnt. Das ist auch nicht so schlimm, das ist der Job der Kassierer und Türsteher. Das Problem sind Menschen wie die Frau im Theater. Denn sie erklären jemandem, den sie überhaupt nicht kennen, dass sie ihn eigentlich nicht für voll nehmen. 

Die Frau war sehr erstaunt, als ich meinte, dass ich schon eine Weile aus der Schule raus bin. „Was? Ich hätte Sie höchstens auf 19 geschätzt“, sagte sie. Die einzig gute Antwort in solchen Fällen ist, dass ich hoffentlich immerhin später Falten bekomme. Im Moment aber sorge ich mich nicht um Falten. Und ich kann selbst entscheiden, ob ich stehen oder sitzen möchte.

Wie die meisten in meinem Alter bin schon lange aus meinem Elternhaus ausgezogen und kriege mein Leben mit dem ganzen Kram, den man erledigen muss, wenn es nicht mehr Mama und Papa für einen tun, eigentlich ganz gut hin. Mit Mitte 20 hat man in der Regel schon in diversen Jobs und Nebenjobs Geld verdient, Mietverträge unterschrieben und Umzüge organisiert. Man muss sich sein Budget selbst einteilen, vielleicht arbeitet man auch schon seit ein paar Jahren Vollzeit. Mit 25 sind viele schon verheiratet oder haben ein Kind. Sie sind schlicht erwachsen.

Solange man wirklich noch jung ist, ist „jung-aussehen“ kein Kompliment

Die Menschen, die mich so jung schätzen, sind meist schon älter. Vielleicht verschwimmen für sie alle unter 30 zu einer undefinierbaren Masse. Ich kann auch schlecht beurteilen, ob jemand 45 oder 55 ist. Aber das behalte ich dann für mich. Ich höre jetzt schon all die, die sich an den Kopf fassen und sagen: „Hat die sonst keine Probleme?!“ Und ja, klar: Natürlich gibt es Schlimmeres, als für jünger gehalten zu werden. Sei doch froh, sagen manche, besser als älter! Denn jung bedeutet ja agil, fit, faltenlos, und was man in unserer Gesellschaft so alles sein soll. Und ja, mit 40 freue ich mich darüber dann vielleicht auch.

Mit Mitte 20 bedeutet jünger geschätzt werden aber nur, dass man nicht ganz ernst genommen wird. Dass man aussieht wie ein Schulkind. Es impliziert, dass man so wirkt, als ob man keine Verantwortung übernehmen könnte. Dass einen das Gegenüber nicht für selbstständig hält, sondern für jemanden, der noch keinen Haushalt führt, noch nicht wählen darf, keinen Mietvertrag unterschrieben hat, noch nie gearbeitet hat und überhaupt nicht weiß, wie das „richtige Leben“ eigentlich ist. Klar hat man von diesem „richtigen Leben“ mit Mitte 40 bestimmt noch mehr Ahnung als ich jetzt. Aber ein Stück weiter als vor sechs Jahren bin ich schon.

Und dabei habe ich noch Glück. In diversen Foren liest man Geschichten von Frauen, die im Auto angehalten werden, weil die Polizei denkt, sie hätten den Autoschlüssel von Papa geklaut. Oder die sehr schräg angeschaut werden, weil sie mit geschätzt-17-in-Wirklichkeit-30 schon ein Kind haben. 

Warum müssen so viele Menschen unbedingt thematisieren, dass jemand jung aussieht? Macht das Spaß? Soll das nett sein? Oder abschätzig? Es gilt allgemein als sehr unhöflich, Menschen zu sagen, dass sie alt wirken. Sage ich jemandem ins Gesicht, dass er aussieht wie 75, obwohl er gerade mal 60 ist? Nein. Und ich sehe auch keinen Sinn darin, solche Gedanken auszusprechen. Umgekehrt muss das genauso wenig sein. 

Solange man wirklich noch jung ist, ist „jung-aussehen“ kein Kompliment. Dann ist das nicht freundlich, sondern unnötig und, ja, es kann verletzend sein. Also, liebe alle: Niemand freut sich darüber, wenn er oder sie hört, dass er oder sie ja viel jünger aussieht – wenn man wirklich noch jung ist. Ich bin gespannt, wie das in 20 Jahren ist – wenn ich dann wirklich weniger Falten habe als mein Umfeld.

Unsere Autorin will ungern, dass noch mehr Menschen über ihr Alter nachdenken, als das ohnehin schon der Fall ist. Deswegen erscheint dieser Text anonym. Sie ist der Redaktion aber bekannt.

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