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Lieferdienste wie „Gorillas“ gefährden das gesellschaftliche Miteinander

Essen liefern lassen ist praktisch – aber unsere Autorin sieht den Supermarkt auch als Ort der Begegnung.
Foto: imago images/Michael Gstettenbauer

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Nach mehr als einem Jahr Pandemie dachte ich, dass es Lehren gebe, die wir zusammen als Gesellschaft gezogen hätten: Händewaschen bringt’s voll, zum Beispiel. Oder auch: In die Armbeuge zu niesen ist prinzipiell besser als in ein anderes Gesicht. Und wie viele andere auch habe ich während des ersten Lockdowns, als ich eingepfercht in meiner stickigen Wohnheimswohnung saß und abwechselnd auf leere Seiten meiner Bachelorarbeit und Video-Zusammenschnitte von „Love Island“ schaute, gelernt: Alleinsein ist irgendwie scheiße.

Aber Lernen und Umsetzen sind ja bekanntlich zwei verschiedene Dinge. Und mir scheint: Obwohl wir gelernt haben, dass wir andere Menschen brauchen, entscheiden wir uns immer öfter dazu, bequemer zu leben. Und alleine zu bleiben, statt einander zu begegnen.

Für sich selbst zu bleiben war noch nie so verlockend

Das sieht man zum Beispiel am neuen Lieferdienst „Gorillas“. Der verspricht, online bestellte Lebensmittel in nur zehn Minuten vor die Haustür zu bringen. Die Tage, an denen wir für eine Tüte Chips wie Sammler*innen zum nächsten Aldi aufbrechen und Kassierer*innen begrüßen mussten, sind damit also endlich gezählt. Das Konzept ist erfolgreich: Nur zehn Monate nach der Gründung im Mai 2020 ist das Unternehmen bereits mehr als eine Milliarde Dollar wert. Und die Idee, für den Einkauf nicht mehr warten oder auch nur den Podcast pausieren zu müssen, ist nicht ganz neu: Schon 2016 eröffnete „Amazon Go“ in Seattle – eine Supermarktkette, die den Kassiervorgang abgeschafft hat. Kund*innen laufen hier lediglich in den Laden, packen sich die gewünschte Ware unter den Arm und laufen wieder raus. Kameras und Sensoren rechnen automatisch ab. Auch in vielen McDonald’s-Filialen kann man seine Bestellung auf einem Display eintippen, eine Nummer ziehen und das Essen dann an der Theke abholen. Für sich selbst zu bleiben, war noch nie so verlockend: In der McDonald’s-Welt muss ich keiner Servicekraft mehr „Hallo“ sagen, um mein Happy Meal zu bekommen – nicht mal um auszuwählen, welches Spielzeug ich will. In der Gorillas-Welt sitze ich daheim auf der Couch, während mir der*die Lieferant*in unter Zeitdruck und schlechten Arbeitsbedingungen eine Avocado bringt. Kontakt mit anderen Menschen: quasi null. Für die Unternehmen ist das super, sie sparen Personalkosten. Für unser gesellschaftliches Miteinander ist das gefährlich.

Um das zu erklären, muss ich mir Hilfe von einem großen Bestseller-Autoren holen: David Foster Wallace. In seiner Rede „Das ist Wasser“ argumentiert er, dass wir alle Ich-zentriert auf die Welt kommen würden, mit dem Glauben, „dass ich der absolute Mittelpunkt des Universums bin, der echteste, lebendigste und bedeutendste existierende Mensch“. So klingt das übrigens auch bei „Love Island“. Foster Wallace sagt also: Wir sehen die Welt nur mit uns in der Hauptrolle. Und da kommt der Supermarkt ins Spiel: Der sei nämlich ein Ort, an dem wir diese Perspektive ändern könnten. Also: Während ich genervt in der Kassenschlange warte, bin ich mit den Menschen um mich herum konfrontiert. Ich merke, dass nicht nur ich, sondern auch die anderen frustriert sind oder ungeduldig – und dass die Leben der anderen Menschen vielleicht sogar gerade schwieriger sind als meins.

Konzepte wie „Gorillas“ halten uns von den Situationen fern, die uns gesellschaftliches Miteinander beibringen

Aber klar: Über ein schwieriges Leben nachzudenken ist eine Sache, die ich nicht besonders gerne mache – besonders nicht an Dienstagabenden, wenn der Alltagsfrust kickt und der Weg zum Imbiss um die Ecke so lang scheint wie nach Mordor. Das sind die Abende, an denen ich Lieferant*innen begrüße wie alte Bekanntschaften, dankbar dafür, den Tag besser enden lassen zu können, als er angefangen hat. Bequemlichkeit ist also nicht per se etwas Schlechtes, im Gegenteil: Sich das Abendessen liefern zu lassen macht unser Leben entspannter und schenkt uns Zeit.

Das Problem ist aber: Konzepte wie „Gorillas“ halten uns langfristig von den Situationen fern, die uns gesellschaftliches Miteinander und andere Perspektiven beibringen: Denn um auch andere Menschen in der Hauptrolle zu sehen, müssen wir andere Menschen eben erstmal sehen. In einer Schlange anstehen nervt zwar, aber erdet auch. Gemeinsames Warten bedeutet zusammen leben. Es zeigt mir: Ich bin nicht die einzige Person auf der Welt, mein Bedürfnis nach einer Weißweinflasche kurz vor Ladenschluss ist nur eines von vielen Bedürfnissen im Raum. Und es ordnet sich ein: unter das der alleinerziehenden Mutter, die einen vollen Einkaufswagen und zwei Kleinkinder bewältigt; unter das des Kassierers, der seine Zehn-Stunden-Schicht beenden will.

Eine Gesellschaft, die sich nicht einmal mehr vor dem Tiefkühlregal begegnet, wird zerbrechlicher

Gesellschaftliches Zusammenleben braucht Orte, an denen man zusammen lebt. Durch immer mehr und bequemere Serviceleistungen verlieren wir diese Orte aber. Wir schauen, lesen und treffen genau das, was wir wollen – durch Netflix bingen wir unterschiedliche Serien, durch Twitter lesen wir verschiedene Nachrichten, durch Tinder treffen wir nur noch Leute, die wir uns vorab gezielt aussuchen. Klar, das hat auch gute Seiten: Es macht uns glücklicher und das Angebot diverser. Wir schaffen so aber auch immer mehr Möglichkeiten, wie wir anderen Menschen und Sichtweisen aus dem Weg gehen können und wie wir Menschen, die für uns arbeiten, noch seltener in die Augen schauen müssen. Eine Gesellschaft, die sich nicht einmal mehr vor dem Tiefkühlregal begegnet, wird zerbrechlicher: Sie verliert Referenzpunkte – Dinge und Orte, die wir gemeinsam erleben und über die wir unsere Gemeinsamkeit definieren können. Wie in jeder Beziehung müssen wir uns fragen: Wenn wir nichts mehr miteinander machen, sind wir dann überhaupt noch zusammen?  

Während des ersten Corona-Lockdowns leerte sich meine Stadt, meine Freund*innen zogen kurzzeitig zu ihren Eltern zurück und mein WG-Zimmer verwandelte sich in eine Höhle. Doch das Kühlregal bei Aldi bot mir Obhut. Hier wurde mir klar: Ich bin nicht allein. Inmitten all dieser Menschen aus meiner Stadt, die ich ausgeblendet hatte und die nun hastig vor mir herliefen, erinnerte ich mich: Ich bin nicht nur Inventar meiner Wohnung, sondern Teil einer Gesellschaft. Dieses Gefühl sollten wir nicht für maximale Bequemlichkeit aufgeben. Nicht einmal für zehn Minuten.

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