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„Man sollte Musik nicht als Therapie verstehen“

Alicia, ihr Sohn Rubén und ihr Enkel Daniel in ihrem jeweiligen Métier.
Fotos: JustJuanphoto / Claudia Heyel

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In dieser Kolumne geht es um ein Thema, das eine Familie verbindet. Drei Generationen – drei Perspektiven. Eine Kolumne über rote Fäden.

Daniel, sein Vater Rubén und Rubéns Mutter Alicia sind professionelle Musiker:innen. Sie sprechen über Identität, die Herausforderungen ihrer Zeit und darüber, was sie voneinander unterscheidet.

Es antworten:

Alicia Sciancalepore Dubrovsky : 81, Pianistin. Begann mit sechs Jahren, Klavier zu spielen, um ihrer großen Schwester nachzueifern. Später ging sie ans Konservatorium in Buenos Aires. 

Rubén Dubrovsky: 54, Dirigent und Leiter von Ensembles in Wien und in Chicago. Fing mit zehn an, das argentinische Volksmusikinstrument Charango zu spielen, dessen Klangkörper der Schild eines Gürteltiers ist. 

Daniel Dubrovsky: 24, Horn-Student an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Mit acht begann er zu spielen, heute arbeitet er bei der Kammerakademie Potsdam und beim Anhaltischen Theater Dessau. 

Wie viel deiner Identität macht dein Beruf aus?

Alicia: Pianistin sein ist meine Identität. Ich habe nie gedacht, ich könnte etwas anderes sein.

Rubén: Musik war für mich entscheidend, um meine Persönlichkeit zu entwickeln. Ich war früher ein sehr schüchterner Mensch, aber wenn ich Musik gemacht habe, war ich nicht schüchtern. Es hat mir sehr geholfen, mich der Welt und für andere zu öffnen.

Daniel: Mein Beruf macht viel meiner Identität aus, aber er ist sie nicht allein – die anderen Teile werden mir immer mehr bewusst. Früher habe ich mich oft nur dann gut gefühlt, wenn es mit der Musik gut lief. Jetzt weiß ich, dass ich auch andere Stärken habe und für andere Dinge geschätzt werde. Mein Selbstwertgefühl ist deswegen nicht mehr so abhängig von meinem Beruf.  

In welcher Lebenssituation hat Musik dir besonders geholfen?

Alicia: Wenn ich große gesundheitliche Probleme hatte, habe ich gesagt, schickt mich nicht zum Arzt, schickt mich ans Klavier, dann bin ich gesund. Aber man sollte Musik nicht als Therapie verstehen. Das ist nicht professionell. Musizieren ist wie Reisen. Wenn ich erst Mozart spiele und dann Debussy – mein Gott, was habe ich für eine Reise gemacht! Man geht von einem Körper in den anderen, von einer Seele in die andere.

Rubén: Bis ich 15 Jahre alt war, gab es in Argentinien eine Militärdiktatur. Das war furchtbar. Die Musik war ein Ort des Glücks, an dem man frei sein konnte. Aber es war keine Flucht, wie man zum Beispiel in den Alkohol flieht. Durch Musik kann man sich mit dem besten Teil der Menschheit verbinden. Die Welt zeigt uns oft einen schlechteren Teil – gerade in einer Diktatur.

Daniel: Musik hilft mir eigentlich immer. Vor allem, wenn ich mich verloren oder müde oder nicht ganz bei mir selbst fühle. Dann gibt es Musik,­­­­ die den Rest der Welt verschwinden lässt.

Um welche Umstände beneidest oder bemitleidest du die anderen Generationen?

Alicia: Wenn ich vor 50 Jahren in Buenos Aires die Noten einer bestimmten Sonate haben wollte, musste ich eine Notenagentur in Europa kontaktieren und zwei Monate warten. Damals war das wirklich ein Abenteuer. Jetzt gibt es im Internet alle Noten und Aufnahmen. Das ist ein Schatz, den wir nicht hatten.

Rubén: In der Corona-Zeit wurde infrage gestellt, wie wichtig Orchester überhaupt sind. Das wäre vor einigen Jahrzehnten undenkbar gewesen. Ich denke, dass das auf viele Kulturinstitutionen zukommen wird. Und darum beneide ich die neue Generation nicht. Sie wird neue Lösungen finden und Kompromisse machen müssen, die für die Kunst nicht von Vorteil sind.

Daniel: Wenn mein Vater und meine Oma Orchestermusiker gewesen wären, hätten sie es vor ein paar Jahrzehnten leichter gehabt, eine feste Stelle in einem Orchester zu bekommen. Es gibt heute viel mehr gut ausgebildete Leute und tendenziell weniger Stellen. Außerdem gibt es heute zwar mehr Möglichkeiten, sich zu bilden. Dafür ist es aber schwieriger geworden, sich zu orientieren.

In welcher Situation bist du das erste Mal bewusst mit Musik in Berührung gekommen?

Alicia: Ich komme aus einer italienischen Familie. Die Italiener haben früher Arien wie Volksmusik gesungen. Bei uns zu Hause war also immer Musik.

Rubén: Mein Vater hatte eine große Liebe für argentinische Volksmusik und meine Mutter ist Pianistin. Sie hat gesehen, dass ich ein Musiker bin. Ich denke, dass ihre Impulse wichtiger waren als viele Lehrer, die ich danach hatte.

Daniel: Wir haben zu Hause beim Spielen Musik gehört und zu Symphonien auf Töpfe geklopft. Und wenn ich bei meiner Oma war, lag ich unter ihrem Flügel und habe gemalt, während sie Klavier gespielt hat.

Was unterscheidet euch voneinander?

Alicia: Kinder und Enkelkinder haben immer eine andere Energie. Das ist schön, das ist das Leben. So kann ich Neues finden und Neues lernen.

Rubén: Daniels Weg ist ganz anders als meiner. Seit er drei Jahre alt war, ist er ganz klar ein Hornspieler. Da ist er erstaunlich konsequent geblieben, es hat nie gekriselt. Ich habe mich die ganze Zeit über neu erfunden, wenn mich etwas nicht erfüllt hat oder ich meinen Platz suchen musste. All diese Momente waren mit großer Selbstbefragung verbunden: Wer bin ich und was will ich?

Daniel: Ich spiele ein anderes Instrument als mein Vater und meine Oma, das bedingt eine andere Herangehensweise und einen anderen Alltag. Blechblasinstrumente kann man nur drei oder vier Stunden am Tag spielen, bei Klavier können es auch mal acht sein. Dafür sind die Blechbläser sofort nicht mehr so in Form, wenn sie mal ein paar Tage nicht geübt haben. Das hat auch einen sportlichen Aspekt. Unsere Instrumente sagen sicherlich etwas über unsere Mentalität aus.

Welche Gedanken gehen dir vor einem Auftritt durch den Kopf?

Alicia: Ich hatte einen sehr guten Professor, der gesagt hat: Mach Platz für die Musik, du bist nicht das Wichtigste. Du bist nur ein Medium, du bringst den Menschen etwas, das nicht dir gehört.

Rubén: Aufgeregt bin ich nicht, ich bin freudig. Auf der Bühne zu sein, ist für mich wie Urlaub. Aber ich bin dort ja nie alleine. Also hoffe ich, dass auch meine Kollegen keine Angst haben. Wenn da eine Angst ist, ist es meine Rolle, sie ihnen zu nehmen, sodass die Bühne ein sicherer Ort ist.

Daniel: Ich bin mal mehr und mal weniger aufgeregt. Das hat viel mit meinem Grundbefinden zu tun. Man merkt auf der Bühne sehr gut, wie es einem wirklich geht. Beim Hornspielen kann man grundsätzlich nicht zu 100 Prozent wissen, dass alles klappen wird. Oft entscheidet schon ein kleiner Unterschied im Luftdruck oder in der Lippenspannung darüber, ob man den richtigen oder den nächstgelegenen Ton trifft. Deswegen hängt viel mit Vertrauen zusammen. Und mit Optimismus.

Was ist dein Lieblingsstück?

Alicia: Robert Schumanns Fantasie in C-Dur, der dritte Satz. Und der zweite Satz der Klaviersonate Nummer 3 in f-Moll von Johannes Brahms.

Rubén: Es sind zu viele. Aber privat für mich höre ich meist südamerikanische, traditionelle Musik. Umso mehr, wenn es Volksmusik mit afrikanischen Wurzeln ist.

Daniel: Ein Lieblingsstück habe ich nicht, aber eine Lieblingsepoche: die Romantik. Also Strauss, Bruckner, Mahler, Brahms. Das ist die Epoche, in der das Horn sehr viel mitzureden hat.

Wenn du das, was Musik für dich bedeutet, in einem Wort ausdrücken möchtest, welches Wort wäre das?

Alicia: Liebe.

Rubén: Verbindung.

Daniel: Alles.

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