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„Merkelwave“ ist der Soundtrack gegen die Krise

Foto: Kay Nietfeld / dpa / freepik

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Angela Merkel sitzt mit Kopfhörern auf den Ohren im Zug und scheint in ein Buch vertieft. Langsam steigt Rauch aus ihrer E-Zigarette auf, während draußen vor dem Fenster das Neuland vorbeizieht.

Die Corona-Krise hat so manche Hobbys mit sich gebracht: Bananenbrot backen, spazieren gehen oder Animal Crossing spielen. Immerhin brauchten die Menschen, die vorher zum Zeitvertreib ins Fitnessstudio gingen oder sich mit Freund*innen trafen, neue Beschäftigungen. Etwa zur selben Zeit entstand auf Youtube das erste Merkelwave-Video. Der Soundtrack für die Krise, oder wie es ein User so passend formuliert: „Merkelwave: the genre we didn’t know we needed“.

„Warum ist das noch nicht unsere Nationalhymne?“

Das Musikgenre kombiniert beruhigende Lo-Fi Sounds mit ermutigenden Aussagen von Angela Merkel. Was wie eine willkürliche Kombination klingt, funktioniert in der Praxis erstaunlich gut. Immer wieder hört man die Bundeskanzlerin sagen: „Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das!“ oder „Zwischendrin einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen.“ Und genau das macht man in dem Moment auch irgendwie. Das erste Video dieser Art hat auf Youtube inzwischen mehr als eine Millionen Aufrufe. Das Feedback in den Kommentaren ist überwiegend positiv. Ein User fragt sogar „Warum ist das noch nicht unsere Nationalhymne?“ Inzwischen gibt es mehrere Nachfolge-Videos, die ebenfalls gut ankommen.

Als Teil der „Generation Merkel“ (also als junge Frau, die den Großteil ihres Lebens mit ihr als Bundeskanzlerin verbracht hat) kann ich den Hype gut nachvollziehen. Angela Merkel ist für mich eine Instanz und der Gedanke, dass sie bald nicht mehr Bundeskanzlerin von Deutschland sein wird, fühlt sich fast unmöglich an. Wenn sie also im gewohnt sachlichen Ton sagt: „Wir schaffen das und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden”, dann fühlt sich ein kleiner Teil in mir beruhigter – selbst wenn der „R-Wert“ bei der Corona-Ausbreitung wieder anfängt zu steigen. 

Dass das Merkelwave-Video so beliebt ist, liegt laut Kay Hinz vor allem an der Bekanntheit der Bundeskanzlerin. Kay Hinz ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Er sagt: „Man kennt ihr Gesicht, man kennt ihre Mimik, ihre Gestik. Das hat etwas Ikonisches und deshalb kann sie auch leicht überspitzt und überzeichnet dargestellt werden.” Dass Aussagen von Politiker*innen mit Lo-Fi Musik unterlegt werden, ist auch kein Einzelphänomen. Im Netz findet man solche Videos zu Martin Sonneborn, Bernie Sanders und Giuseppe Conte. Hochgeladen werden die Lieder von Youtube-User*innen, die sich auf das Genre spezialisiert haben und mehrere Kombinationen von Politiker*innen und Lo-Fi Beats ausprobieren. Dabei gehe es vor allem darum, wie gut sich die Politiker*innen karikieren lassen, meint Hinz.

„So eine Wahlkampfaktion erlebt man selten im politischen Geschäft“

Besonders überrascht hätte Hinz das Video der Conservative-Partei um Premierminister Boris Johnson. Die Tories luden im November 2019, etwa zwei Wochen vor den Wahlen in Großbritannien, das Video „lo fi boriswave beats to relax/get brexit done to“ auf dem offiziellen Kanal der Partei hoch.

So eine Wahlkampfaktion erlebe man selten im politischen Geschäft, erklärt Hinz. „Man hat oft Spielereien, die dann auch bewusst auf anderen Wegen veröffentlicht werden, damit es, falls es doch peinlich oder schräg rüberkommt, nicht direkt auf die Partei zurückfällt.“ Gewagte Wahlkampfaktionen kämen in Deutschland zumindest eher von einzelnen Politiker*innen, statt offiziell von den Parteien selbst. 

Das Vorgehen der Conservative-Partei in Großbritannien sei deshalb ungewöhnlich. Die Auswirkung auf das Wahlergebnis schätzt Hinz gering ein. „Es gibt verschiedene Gruppen, die das mitkriegen. Zum einen sind da Leute dabei, die gar kein Interesse an Politik haben. Wenn die das Video sehen, werden sie es vielleicht lustig finden, aber sie werden nicht dazu übergehen, Johnson oder seine Partei zu wählen.“ Wenn aber sowieso eine Affinität zu den Conservatives bestehe, könne es schon funktionieren. Was das Video aber nicht kann, ist, laut Hinz, Meinungen umzukehren. „Wer Johnson vorher nicht mochte, wird nicht sagen: ‚Das ist ja lustig gemacht, den wähl ich.‘“ Der Witz allein reiche dafür nicht.

Die deutsche Version des Videos hat inzwischen mehr Aufrufe als das britische Original

Tatsächlich – ich finde Boris Johnson dadurch auch nicht netter. Statt der zugegeben etwas halbherzigen Motivationssprüche von Merkel, hört man Johnson nur über den anstehenden Erfolg des Brexits reden. Das lässt sich schwer ausblenden. Und obwohl die ähnliche Animation im Video vermuten lässt, dass Merkelwave aus der Idee des Boriswave-Videos entstanden ist, hat die deutsche Version inzwischen mehr Aufrufe als das britische Original. Der Erfolg des Videos hänge auch mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung zusammen, erklärt Hinz. Das Video wurde im März, einige Tage vor dem Shutdown wegen der Ausbreitung des Coronavirus hochgeladen. Kurze Zeit später wurden auch die Schulen in Deutschland geschlossen. „Wie können Schülerinnen und Schüler richtig lernen? Das war ein großes Thema. Gerade diese Lern-Hintergrundmusik funktioniert deshalb als aktuelle Gagvorlage wirklich gut und wird dementsprechend auch rumgeschickt.“ 

Ironischerweise ist es gerade die Zielgruppe des Merkelwave-Videos, zu der die CDU immer mehr den Kontakt verliert. Auch in meiner eigenen Filterbubble findet die Unionspartei nicht wirklich statt. Hin und wieder stolpert man auf Social Media über Philipp Amthor, aber von ihm fühlen sich wahrscheinlich die wenigsten in meinem Alter repräsentiert. Nach einer aktuellen Studie würden momentan sogar nur 24 Prozent der 18- bis 20-Jährigen die CDU oder CSU wählen. Die SPD liegt bei der jungen Zielgruppe sogar nur bei 9 Prozent. Parteien müssten sich im Wahlkampf mehr trauen, um junge Wähler zu erreichen, meint Hinz. Das müsse nicht unbedingt auf die selbe Art gemacht werden wie bei Boris Johnson, aber wer nur auf klassische Formate setze, verliere den Kontakt zur Zielgruppe. „Wenn man nur den Wahlkampfstand am Samstagnachmittag in der Innenstadt macht, dann erreicht man nicht die Leute, die sich überwiegend im Netz informieren und im Netz kommunizieren.“ Schließlich ist das Internet nicht für alle Neuland.

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