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„Das waren Nächte, die vergisst man nicht“

Erik von „Chemnitz Nazifrei“ sagt: Die Stadt hat sich verändert.
Foto: Sophie Aschenbrenner

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Layla erinnert sich noch genau an diesen Sonntag vor einem Jahr, als das Chemnitzer Stadtfest abgesagt wurde. In der Nacht zum 26. August 2018 war der zum Tatzeitpunkt 35-jährige Daniel H. an einem Samstagabend gegenüber eines Dönerimbisses in der Brückenstraße zwischen Innenstadt und Hauptbahnhof erstochen worden. Jetzt, ein knappes Jahr später sprach das Chemnitzer Landgericht einen 24-jährigen Geflüchteten wegen gemeinschaftlichen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung schuldig.

Einen Tag nach der Tat marschierten im August 2018 die Rechten durch Chemnitz. „Eine Freundin schrieb mir, dass sich ein paar Nazis in der Innenstadt versammelt haben. Ich dachte, da wird es sicher einen Gegenprotest geben“, erzählt Layla. Also fuhr sie in die Stadt. Auf dem Weg schrieb jemand: „Fahr auf jeden Fall wieder zurück! Da ist es nicht sicher!“ Doch Layla war schon in der Bahn. In der Innenstadt kamen ihr zwei junge Männer mit dunkler Hautfarbe entgegen, ihre Nasen bluteten. „Dann kam der Mob auf mich zu“, sagt die 19-Jährige. Sie flüchtete in ein Café. „Das war so gruselig. Es kam mir vor wie 1933, nicht wie 2018.“ Einige Wochen befand sich die drittgrößte Stadt Sachsens im Ausnahmezustand: Es kam zu rassistisch motivierten Übergriffen, zivilgesellschaftlicher Gegenprotest formierte sich. Anfang September feierten Zehntausende unter dem Motto #wirsindmehr, wollten ein Zeichen setzen gegen die Instrumentalisierung des Todes von Daniel H.

Ein Jahr später sitzen an einem Freitag Ende August nur zwei Menschen auf den Stühlen vor der Dönerbuden unweit des Tatorts in der Sonne. Wenige Meter weiter, vor dem Karl-Marx-Monument, hocken junge Geflüchtete auf den Stufen und essen Take-Away-Food. Friedlich wirkt das – doch einen Tag zuvor sah es hier anders aus. An der Laterne vor dem Monument hängt noch das Plakat, das die Wahlkampfveranstaltung des Grünen-Chefs Robert Habeck angekündigt hatte: Am 15. August sprach er im Vorfeld der Landtagswahl in Sachsen mit den Chemnitzer Direktkandidat*innen Susann Mäder, Kathleen Kuhfuß und Volkmar Zschocke vor 300 Menschen. Etwa zwei Dutzend Anhänger*innen der vom Verfassungsschutz beobachteten extrem rechten Gruppierung „Pro Chemnitz“ versuchten, die Grünen niederzubrüllen. Habeck hielt das aus, verwies sie nicht des Platzes.

„Das waren Nächte, die vergisst man nicht“, sagt Aktivist Erik 

Lauter seien die Rechten auf jeden Fall geworden, lauter und mutiger, sagt Verena. Die 26-Jährige studiert in Chemnitz Informatik für Geisteswissenschaftler*innen im Master, 2015 kam sie dafür von Würzburg in die sächsische Stadt. Sie engagiert sich im Student_innen-Rat der TU Chemnitz und arbeitet unter anderem im „Referat internationale Studierende“. Vor allem aus Indien kommen viele junge Menschen zum Studieren nach Chemnitz, erzählt sie. Die rechten Ausschreitungen im vergangenen Herbst hatten viele von ihnen verunsichert. „Wir haben so viele Anrufe und Mails bekommen: Können wir nach Chemnitz zurückkommen? Ist es dort sicher?“, erinnert sich Verena. Auch in die indischen Medien hatte es Chemnitz geschafft, Eltern hatten Sorge um ihre erwachsenen Kinder, die Kinder selbst Angst vor rassistischen Angriffen. „Viele haben sich dann in Gruppen zum Einkaufen zusammengetan, waren in der Nacht nicht mehr draußen.“

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Verena hat täglich mit internationalen Studierenden zu tun.

Foto: Sophie Aschenbrenner

Geschichten von offenem Alltagsrassismus kann die Beauftragte der internationalen Studierenden viele erzählen. Menschen, die von der Wartebank an der Bushaltestelle aufstehen, weil sich jemand mit dunkler Hautfarbe auf die gleiche Bank setzt. Der Busfahrer, der nicht anhält, wenn da ein Inder oder eine Inderin einsteigen möchte und kein Mensch mit heller Hautfarbe. Der Bäcker, der diejenigen anschnauzt, die Englisch und kein Deutsch sprechen. „Solche Vorfälle haben sich im vergangenen Herbst extrem gehäuft“, sagt Verena. „Die Menschen haben sich bestätigt gefühlt von den rechtsradikalen Demonstrationen in Chemnitz.“

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Erik von „Chemnitz Nazifrei“ sagt: Die Stadt hat sich verändert.

Foto: Sophie Aschenbrenner

Auch Erik hatte Angst im vergangen Herbst. Der 23-Jährige engagiert sich beim Bündnis „Chemnitz Nazifrei“. Er kommt eigentlich aus einem Dorf im Erzgebirge, seit einem Jahr wohnt er in Chemnitz. Sein Freund Roman erinnert sich noch genau an die Aufmärsche der Rechten: „Rechte aus der Umgebung des Dritten Weges sind Seite an Seite mit relativ bürgerlichen Menschen nebeneinander gelaufen. Das war erschreckend“, erzählt der 21-Jährige. „Ich bin abseits der Demo von Menschen erkannt und verfolgt worden“, erinnert sich Erik. „Das waren Nächte, die vergisst man nicht, und das sind Erfahrungen, die werden einen nie mehr loslassen.“ Beide sind sich sicher: Diese Größenordnung war neu. „Rechte Energien gab es hier schon immer, das kann man ja auch nicht wegdiskutieren“, sagt Erik. Und schiebt dann nach: „Aber jetzt hat es mal eine größere Masse gecheckt.“

Layla und ihre Familie werden ihre Heimatstadt verlassen

In diesem Jahr findet das Stadtfest nicht statt – vorsorglich. Das sei egal, sagt Verena: „Es sind ja ohnehin ständig andere Feste, bei denen theoretisch ebenso was passieren kann.“ Derzeit ist Weindorf auf dem Platz vor dem Chemnitzer Rathaus. Junge Familien spazieren zwischen den Bierbänken herum, die Menschen stehen Schlange für Süßigkeiten, Käseplatten und natürlich: Wein. Die Stimmung ist entspannt, von der Bühne tönt Schlagermusik, der Bratwurstgeruch hängt durchdringend in der Luft. Erik und Roman gehen zu „solchen Festen“ schon lange nicht mehr, sagen sie. Ihr Bier trinken sie lieber in Kneipen, die sie selbst verantworten. Zum Beispiel in der „Zukunft“, einer Bar in einem linken Hausprojekt. Da sitzen die beiden jetzt auf abgewetzten, schwarzen Ledersofas, eine junge Katze turnt um sie herum. Definitiv habe sich im vergangenen Jahr einiges geändert, sagt Roman: „Durch den Sommer ist viel entstanden.“ Es gebe viele neue Initiativen, die sich gegen rechts einsetzen. „Gefühlt jeder Zweite hat den Gedanken im Kopf: Irgendwie müssen wir was machen“, fügt Erik hinzu.

Für Layla reicht das nicht. Passiert ist der gebürtigen Chemnitzerin vor einem Jahr in der Chemnitzer Innenstadt nichts. Doch für sie und ihre Familie ist klar: In Chemnitz wollen sie nicht bleiben. Ihr Vater kommt aus Syrien, ihre Mutter ist Deutsche. Jetzt wollen sie nach Berlin ziehen. Denn das Klima in der Stadt habe sich im vergangenen Jahr eher verschlechtert, sagt Layla. Besonders wütend macht sie, dass die Politik darüber diskutiert, ob die Hetzjagden überhaupt stattgefunden haben. Auch in ihrem Freundeskreis hat sich manches verändert. Ein Bekannter von ihr lief früher bei Pegida mit, sie engagiert sich schon lange gegen rechts. Eine Zeit lang bemühten sich die beiden, trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen befreundet zu bleiben. „Nach allem, was passiert ist, ist das nicht mehr möglich“, sagt Layla. Das vergangene Jahr bezeichnet sie vor allem als sehr deprimierend. Und sie hat Angst vor den kommenden Tagen: Für Sonntag hat „Pro Chemnitz“ eine Demonstration angekündigt. „Ich hoffe, dass alles halbwegs friedlich bleibt“, sagt Layla. Ihrer Stimme ist anzuhören, dass sie nicht wirklich daran glaubt.

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