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Das Ende der Seenotrettung ist das Ende der Solidarität

Foto: Pau Barrena / afpd

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Ganz kurz musste ich zucken, als Claus-Peter Reisch die Flüchtenden auf seinem Schiff „Gäste“ nannte. Reisch, der Kapitän des Rettungsschiffes „Lifeline“, saß vor einigen Tagen bei Jan Böhmermann im Neo Magazin Royale. Sie sprachen über den Prozess, der Reisch wegen einer womöglich falschen Zulassung für sein Boot gemacht wird. Und darüber, wie viele Tage Reisch seine 234 Gäste übers Meer fahren musste, weil sich kein europäisches Land bereit erklärte, die Geretteten aufzunehmen. Immer wieder hatte ich über den Vorwurf gelesen, dass private Seenotretter so etwas wie der verlängerte Arm der Schleuser und Schlepper seien. Das Geschäft von „Kriminellen“ bestellten. Offenbar so oft, dass mir das Wort Gäste nun komisch vorkam. 

Dabei ist Gäste das wohl anständigste und respektvollste Wort, das Reisch benutzen konnte. Es zeigt, dass er die Menschen nicht als Bittsteller betrachtet, nicht als Migranten, Flüchtlinge, Flüchtende, die froh sein können, dass sie da überhaupt jemand aus dem Wasser holt. Sondern als Menschen, für deren Wohlergehen und Sicherheit er die Verantwortung trug. Der Kampf um das Für und Wider der Seenotrettung ist auch ein Kampf um die richtigen Worte, das wissen wir seit der „Asyltourismus“-Debatte. Reisch hat das richtige Wort gewählt. Und das schönste.

Nur scheint es, als sei der Kampf verloren. In den vergangenen Monaten ging eine Phase von zivilem Engagement zu Ende, auf die viele in meiner Generation wirklich stolz waren. Ein Schiff nach dem anderen wurde festgesetzt. Dass der Aquarius 2, dem Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée, nun die Zulassung entzogen wird, ist der vorläufige Schlusspunkt dieser Entwicklung. Die nichtstaatliche Seenotrettung auf dem Mittelmeer existiert damit nicht mehr. Flüchtende zu retten, das scheint in Teilen der europäischen Politik und Gesellschaft etwas zwischen Schlechte-Laune-Thema und Landesverrat zu sein.

Für mich war es in den vergangenen drei, vier Jahren beruhigend, dass es Menschen gibt, die ihrem Gewissen folgen. Schüler, Azubis, Studenten, Alte und Junge, die nicht zuerst auf ihren Lebenslauf schielen, auf ihre möglichst bequeme und erfolgreiche Existenz achten, sondern auf ihre innere Stimme hören, die ihnen sagt, Tausende von Menschen nicht ertrinken zu lassen. Und die sich auch nicht von denjenigen beirren ließen, die sie 24/7 bequem von Zuhause via Facebook als Schlepper diffamierten und krude Verschwörungstheorien verbreiteten. Auch nicht von Politikern, die sie als „Shuttle-Service“ verspotteten.

Durch die Ehrenamtlichen erfuhren wir aus erster Hand, wie die Not auf dem Mittelmeer aussieht

Das Engagement der Seenotretter half nicht nur ganz praktisch, Menschenleben zu retten. Es war auch ein Statement, das der Welt zeigte, dass Europa seinen Anspruch ernstnimmt, Hüter und Mahner in Sachen Humanität zu sein. Die Arbeit der Ehrenamtlichen baute Druck auf die Politik auf. Immer wieder erfuhr die europäische Öffentlichkeit aus erster Hand, wie die Not auf dem Mittelmeer aussieht.

Wir in der jetzt-Redaktion haben immer wieder Interviews mit Menschen geführt (unter anderem hier, hier, hier und hier), die auf dem Mittelmeer Rettungsmissionen fuhren. Das waren manchmal Gespräche, in denen wir den oder die Interviewten weinen hören konnten, weil sie aus nächster Nähe gesehen hatten, in welchem Zustand die Flüchtenden oft sind. Welche Narben sie am Körper haben, welche Wunden. Wie der Blick von Menschen aussieht, die stundenlang Todesangst durchlitten haben. Ohne diese Helfer erfahren wir nicht mehr, was da draußen los ist.

Es tat gut, als Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf vor zwei Monaten zu Spenden für die Seenotrettung aufriefen – und so viele Menschen bereit waren, sich zu beteiligen. Zu einem Zeitpunkt, als ernsthaft über Sinn und Unsinn diskutiert wurde, Menschen zu retten.

Mit der privaten Seenorterettung geht auch ein weiterer Teil des solidarischen Europa zu Ende

Nun fühlt es sich aber so an, als ginge nicht nur die private Seenotrettung zu Ende. Sondern mit ihr auch ein weiterer Teil des solidarischen Europa, in dem viele von uns sorgenfrei aufwachsen konnten. In dem der Konsens herrschte, dass es gut ist, Menschen zu helfen. Ein Konsens in einem Europa zu leben, das stark ist, progressiv, sich weiterentwickelt. Nach vorne schaut. Und nicht immer höhere Mauern baut.

Ob, wie im Fall von Kapitän Claus-Peter Reisch, die Zulassung für sein Schiff falsch ist oder nicht, müssen Gerichte klären. Wenn so eine Frage aber über das Leben von Menschen entscheidet, dann befinden wir uns in düsteren Zeiten.

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