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Das ist der Gegenentwurf zu Klöckners #Dorfkinder-Kampagne

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Tim ist 26 Jahre alt und in Mittelrode aufgewachsen, einem 320-Einwohner*innen-Dorf 30 Kilometer südlich von Hannover. Einmal hat er versucht, in die Stadt zu ziehen – nach drei Tagen in Hamburg gab er auf. Er fühlt sich in der Stadt einfach nicht wohl. Mittlerweile wohnt er mit seiner Freundin in Heeren, einem ebenso kleinen Dorf in der Nähe von Münster.  Er ist Dorfkind aus Überzeugung. Eigentlich gehört Tim also genau zur Zielgruppe der neuen #Dorfkinder-Kampagne von Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Aber eben nur in der Theorie. In der Praxis sagt er, bevor er über die Kampagne spricht: „Es kann sein, dass ich jetzt gleich emotional werde.“ Das ist nicht positiv gemeint. Tim ist wütend. Die #Dorfkinder-Kampagne, in der Julia Klöckner verwunschene Bilder vom Dorfleben mit motivierenden Sprüchen paarte, wurde kurz nach ihrer Veröffentlichung auf Twitter von vielen Menschen kritisiert, auch Tim ärgerte sich. 

Er selbst ist sozusagen Experte fürs Leben auf dem Land. Auf seinem Blog „Dorf statt Stadt“ schreibt er regelmäßig über alles, was Menschen auf dem Land bewegt. Er weiß, wie es ist in einem kleinen Ort, kennt die Vor- und Nachteile: In seinem Heimatort gibt es eine Kneipe, ein Café, einen Bolzplatz mit Grillhütte, einen Sportverein, einen Gesangsverein und zwei Bushaltestellen. Unter der Woche kommt jede Stunde ein Bus, sonntags keiner, samstags nur wenige. 

Es gibt aber auch: keinen Supermarkt, kein Kiosk, keinen Kindergarten und keine Schule, keinen Bäcker und keinen Club. „Man muss seinen Alltag sehr gut planen“, sagt Tim. Erledigungen macht er meistens mit dem Auto, um nicht auf die Öffentlichen angewiesen zu sein. Er sagt: „Für gutes Dorfleben braucht man eine gute Dorfgemeinschaft.“ Ohne all die Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, die Dorffeste und andere Events organisieren, sei ein Dorf einfach nichts. 

„Es stimmt einfach nicht, dass alles gut ist“

Und genau diese Dorfgemeinschaft, findet Tim, sollte auch von der Bundesregierung gewürdigt werden. „Die komplette Kampagne aber besteht nur aus Floskeln. Als ob jedes Dorf eine heile Welt sei.“ Doch die Realität sehe anders aus: „Es stimmt einfach nicht, dass alles gut ist. Man kann uns nicht alleine lassen und sich nicht ums Dorf kümmern. Es gibt so viele Vereine, die am Kämpfen sind, die Leute suchen, die sonst nicht überleben.“ Den betroffenen Menschen werde nicht zugehört, ihnen werde das Gefühl gegeben, dass die Politik sich rausziehen wolle.

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Foto: Tim Hartmann
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Foto: Tim Hartmann
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Foto: Tim Hartmann

Dass er eine Gegenkampagne starten möchte, wusste er sehr schnell. Sie soll motivieren und die Menschen wertschätzen, die sich ehrenamtlich engagieren. Er setzt den Fokus auf das, was ihm wirklich wichtig ist. Die Kampagne veröffentlichte er auf seinem Blog und in den sozialen Medien. „Andere auf dem Land zu motivieren, weiter aktiv zu sein, sich für den Einsatz bedanken und weitere Leute fürs Engagement zu ermutigen“, das hätte man tun müssen, sagt er. Auch die immer wieder viel kritisierte Tatsache, dass auf dem Land die Infrastruktur oft schlecht ist, müsse thematisiert werden – und vor allem politisch angegangen werden.

Deswegen stehen auf seinen Bildern Slogans wie „#Dorfkinder müssen ums Ehrenamt kämpfen“, „#Dorfkinder müssen zehn Kilometer nach Hause laufen“, und auch: „#Dorfkinder müssen sich selbst beschäftigen“. Denn wenn es auf dem Dorf nicht viel Angebot gebe, müsse man eben kreativ werden. Viele Menschen liken die Bilder und verlinken Julia Klöckner auf Instagram, um die Ministerin auf die Gegenkampagne aufmerksam zu machen.

Die Menschen auf dem Dorf müssen vieles selbst aufbauen, weil es weniger Angebot gibt

Seine Kampagne verklärt nicht, sondern ist kritisch. „#Dorfkinder müssen den Bach als Schwimmbad nutzen“, schreibt er. Und spielt damit darauf an, dass in Deutschland immer mehr Schwimmbäder geschlossen werden. Seit 2000 sind durchschnittlich pro Jahr knapp 80 Hallen- und Freibäder geschlossen worden. Während es im Januar 2000 bundesweit noch 7800 Schwimmbäder gab, waren es Ende 2018 nur noch 6400. Das sind 1400 Bäder weniger innerhalb von 18 Jahren. In den meisten Fällen liegt das vor allem am Geld. Er spielt auch darauf an, dass sich die Menschen auf dem Dorf vieles selbst aufbauen müssen, weil es weniger Angebot gibt. Die Bilder für seine Kampagne hat er alle selbst gemacht – in den vielen Jahren, die er schon auf dem Dorf gelebt hat.

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Foto: Tim Hartmann
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Foto: Tim Hartmann
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Foto: Tim Hartmann

Tim findet: Um das Dorf attraktiver für junge Menschen zu machen, müsse man auch Vorbilder zeigen: „Klöckner hätte echte, gut funktionierende Projekte aus Dörfern in der Kampagne unterbringen können, um andere zu inspirieren und den Leuten Wertschätzung entgegenzubringen. Das wäre außerdem ehrlich gewesen.“

Er fordert: Es braucht neue Konzepte, mehr Vernetzung, mehr Ehrlichkeit – und mehr finanzielle Unterstützung. Immerhin eine positive Sache aber habe Klöckners Kampagne auch gehabt: „Sie hat die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt.“ Jetzt gehe es hoffentlich auch irgendwie weiter.

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