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Magid Magid passt sich im Europaparlament nicht an

Magid Magid war der jüngste Bürgermeister von Sheffield, bevor er im Mai ins Europaparlament gewählt wurde.
Foto: dpa/Chris Saunders

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So viele verschiedene Statements in nur eineinhalb Minuten unterzubringen, das muss man erstmal schaffen. Als Magid Magid am 17. Juli 2019 seine erste Rede im Europaparlament hielt, begrüßte er die anderen Abgeordneten mit „Friends, as-salamu alaykum“. Es folgte eine leidenschaftliche Rede für Seenotrettung, in der er den damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini einen Feigling nannte. Dabei trug der 30-Jährige ein T-Shirt mit einem Slogan gegen den Brexit. Und dann nahm der Vizepräsident des Parlaments auch noch Anstoß an Magids gelber Kappe, die umgedreht auf dessen Kopf saß, und bat ihn, sie beim nächsten Mal doch bitte abzunehmen.

Zwei Monate später sitzt Magid Magid in seinem Straßburger Parlamentsbüro, wieder mit der gelben Kappe auf dem Kopf, in einer Tarnfleck-Jacke, Jeans und grünen Doc Martens, und sagt: „Ich neige nicht zum Code-Switching.“ „Code-Switching“ bedeutet eigentlich, dass man je nach Kontext die Sprache oder den Dialekt wechselt, man kann den Begriff aber auch allgemein für die Anpassung an ein Umfeld verwenden. In Magids Fall würde dieser Switch wohl bedeuten, im Europaparlament die Mütze aus- und einen Anzug anzuziehen. Aber viel würde das nicht ändern, denn sein gesamter, ihm eingeschriebener Code ist nunmal einer, der nicht gerade typisch ist für diese Institution: Magid ist 30 Jahre alt, schwarz, muslimisch und somalisch. Immigrant, Brite, Grüner und Remainer. Arbeiterkind und studierter Meeresbiologe. 

Er fällt hier auf und man kann sich vorstellen, dass das manchmal nervig, deprimierend oder sogar erniedrigend ist. Aber Magid macht daraus eine Tugend und ist so in den vergangenen Wochen zu einem der interessantesten und polarisierendsten neuen Europaabgeordneten geworden – für den seine Zeit im Parlament wegen des drohenden Brexits aber bald schon wieder vorbei sein könnte. 

Am ersten Tag im Parlament sei er gefragt worden, ob er sich verlaufen habe

Im Juli, als die neue Legislaturperiode gerade erst begonnen hatte, sorgte nicht nur Magids Rede für Aufsehen, sondern auch einer seiner Tweets: Am ersten Tag im Parlament sei er gefragt worden, ob er sich verlaufen habe. Anschließend habe man ihn sogar gebeten, das Gebäude zu verlassen. „Ich weiß, dass ich anders aussehe“, twitterte Magid. „Ich habe nicht das Privileg, meine Identität zu verstecken. Ich bin SCHWARZ und heiße Magid. Ich habe nicht vor, mich anzupassen. Gewöhnt euch dran!“

Das Parlament untersuchte den Vorfall und gab an, dass kein Mitarbeiter daran beteiligt gewesen sei. Aber die Geschichte über die fehlende Diversität und Toleranz der EU war da schon längst in der Welt. Magid thematisierte sie auch in einem Meinungsbeitrag für Politico. Darin klagte er außerdem über die Bürokratie und die weltfremde „EU-Bubble“, in der die Angeordneten lebten. Man kann darüber streiten, ob sich jemand schon nach seiner ersten Woche in einem neuen Amt ein so eindeutiges Urteil erlauben sollte, aber Magid hat damit zumindest deutlich gemacht, dass er laut und transparent sein will und gerne auch ein wenig unbequem. Aus der Sommerpause kehrte er mit einem Video zurück, das zu einer Art finalem Kampf gegen den Brexit aufruft, und mit einem Text für den EU Observer, warum er gegen Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin stimmen würde. 

Klar spaltet so jemand. In der grünen Fraktion kriegen einige leuchtende Augen, wenn man Magid nur erwähnt. Von rechts bekam er während seiner ersten Rede sofort wütende Zwischenrufe. Auf Twitter feiern die einen ihn für seine umtriebige Art und seine Energie, die anderen nennen ihn einen „Troublemaker“, wenn sie ihn nicht sogar rassistisch beschimpfen. Er selbst fasst das so zusammen: „Die Menschen lieben oder hassen mich, aber in jedem Fall haben sie eine leidenschaftliche Meinung zu mir.“

„Ich merkte, dass ich nicht dauernd die falschen Leute darum bitten kann, das Richtige zu tun“

Bei all seinen Auftritten und Aktionen kommt Magid extrem selbstbewusst rüber, im persönlichen Umgang ist er aber zurückhaltender und sehr freundlich. Er wirkt sogar ein bisschen unsicher, wie er da auf seinem Stuhl in dem kahlen Büro sitzt und während des Gesprächs an seinem Abgeordneten-Ausweis herumnestelt, den er um den Hals trägt. Und dann sagt er auch noch Sätze wie: „Ich wollte eigentlich nie Politiker werden.“ Als sei er immer noch erstaunt über seinen neuen Job. Am Wahlabend Ende Mai hat der Guardian ihn mit der Kamera begleitet. In dem Video sieht man einen angespannten, leicht überforderten Magid. Am Ende steht er auf der Bühne und der Satz „Irre, dass das wirklich geklappt hat!“ steht ihm förmlich ins strahlende Gesicht geschrieben.

Vorausbestimmt war diese Karriere nicht. Magid Magid wurde 1989 in Somalia geboren, 1994 floh seine Mutter mit ihren sechs Kindern aus dem Bürgerkrieg nach Großbritannien. Partei-Politik habe bei ihm daheim in Sheffield eigentlich keine Rolle gespielt, sagt Magid. „Aber Politik hat Einfluss auf alles in unserem Leben und war mir darum von klein auf bewusst. Zum Beispiel, wenn meine Mutter beschimpft wurde, weil sie einen Hijab trug.“ Während seiner Schulzeit und des Studiums an der University of Hull war er vor allem „Aktivist“, wie er sagt: „Ich habe immer gegen irgendwas gekämpft oder eine Kampagne für etwas gemacht.“ Gegen die Schließung der lokalen Bibliothek zum Beispiel oder für kostenlose Bildung. Warum aus dem Aktivisten dann doch ein Politiker wurde? „Weil ich es leid war, mich zu beschweren. Ich habe gemerkt, dass ich nicht dauernd die falschen Leute darum bitten kann, das Richtige zu tun.“

2014 trat Magid in die „Green Party of England and Wales“ ein, 2016 wurde er in den Stadtrat von Sheffield gewählt. Als er 2018 zum Bürgermeister ernannt wurde – das Amt rotiert jährlich unter den größten Parteien im Stadtrat – machte ihn das über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt. Magid war mit 28 der jüngste Bürgermeister, den Sheffield jemals hatte, und der erste grüne. Und außerdem eben all das, was in der Politik in Europa so selten ist: schwarz, muslimisch, Immigrant. Und dann hat er auch noch Donald Trump verboten, bei seinem Staatsbesuch in England nach Sheffield zu kommen. Ein solches Verbot hätte er zwar gar nicht umsetzen können, aber öffentlichkeitswirksam war es auf jeden Fall. 

Zum Brexit sagt er: „Wenn ich wetten müsste, dann darauf, dass wir nicht austreten“

Dass Magid jetzt auch noch Europaabgeordneter geworden ist, kam eher überraschend. Nicht nur für ihn. Immerhin sollte Großbritannien am 29. März 2019 eigentlich aus der EU austreten. Aber dann wurde der Brexit verschoben und nur sechs Wochen vor dem Wahltermin stand schließlich fest, dass die Briten am 23. Mai doch ihre Stimmen fürs Europaparlament abgeben würden. Magid hatte nicht geplant, sich aufstellen zu lassen, aber als ihn jemand über Twitter fragte, ob er sich das nicht vorstellen könne, fing er an, darüber nachzudenken. 

Ende April stand er auf der Liste der Grünen und machte vier Wochen lang intensiven Wahlkampf. Offensichtlich erfolgreich: rumfahren, Leute treffen, reden, Fragen stellen, das taugt ihm. Magid ist gerne unter Menschen. Er will, dass sie sich von Politiker*innen ernst- und wahrgenommen fühlen, und führt auch gerne die schwierigen Gespräche mit denen, die nicht seiner Meinung sind. Behauptet er zumindest. Glaubt man ihm aber auch. „Der Wahlkampf war großartig“, sagt Magid. Auf dem Portrait-Foto auf seinem Parlamentsausweis trägt er – außer der gelben Kappe – ein T-Shirt mit seinem Wahlkampf-Slogan: „Immigrants make Britain great.“

Diversität, Bewegungsfreiheit, Asylrecht sind Themen, für die Magid sich einsetzt. Aber im Moment ist da eben auch noch der geplante Austritt Großbritanniens, der alles überschattet. Der neue Termin ist der 31. Oktober – und Magid will bis dahin alles tun, um mindestens einen No-Deal-Austritt, wenn nicht sogar den Bexit überhaupt zu verhindern. „Wenn ich wetten müsste, dann darauf, dass wir nicht austreten“, sagt er. „Ich habe Hoffnung. Und damit meine ich nicht so eine naive Hoffnung, sondern eine aktive. Es gibt so viele tolle Menschen, die aktuell jeden Tag dafür kämpfen, dass die Meinung des Volks gehört wird.“

Nun hat das Volk ja bekanntlich dafür gestimmt, auszutreten. Aber Magid will ein neues Referendum. „Die Abstimmung ist drei Jahre her und seitdem ist viel passiert“, sagt er. „Wir sprechen jetzt über Dinge, die damals keine Rolle gespielt haben, unter anderem die irische Grenze. Die Menschen merken jetzt, dass es keinen Brexit geben kann, der die Versprechen einhält, die ihnen damals gemacht wurden – sondern dass wir hinterher schlechter dastehen werden als vorher.“ Und überhaupt müsse man doch zusammenarbeiten, als Kollektiv der Nationen, gegen Klimawandel, für internationale Sicherheit, um all diese riesigen Probleme unserer Zeit anzugehen.

„Ich liebe die EU genug, um mir zu wünschen, dass sie die beste Version ihrer selbst wird“

Sollte Großbritannien am 31. Oktober die EU verlassen, müssten natürlich auch sämtliche britische Europaabgeordnete ihre Posten aufgeben. Mit diesem Wissen in eine Legislatur zu starten, ist nicht leicht. „Wir können kaum vorausplanen“, sagt Magid. „Ich versuche, immer nur zeitnahe Entscheidungen zu treffen.“ Aktuell beschäftigt er sechs Mitarbeiter*innen, auch die würden dann ihren Job verlieren. Magid selbst ist Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und stellvertretendes Mitglied für Kultur und Bildung. Er glaubt, dort auch bis Ende Oktober schon einen sinnvollen Beitrag leisten zu können, aber klar, in fünf Jahren könne man natürlich viel mehr erreichen als in ein paar Monaten. Vielleicht ist diese Unsicherheit auch einer der Gründe, warum er sofort so aktiv und so präsent war und warum er manchmal in eineinhalb Minuten so viele Botschaften wie möglich unterbringt.

Wenn es nach Magid geht, hat die Europäische Union in fünf Jahren immer noch ein Mitglied namens Großbritannien. Ansonsten soll sich bis dahin aber bitte einiges geändert haben. „Europa ist aktuell nicht gerade ein sicherer Hafen für progressive Ideen. Sehr viel läuft hier schief“, sagt er. „Aber ich liebe die EU genug, um mir zu wünschen, dass sie die beste Version ihrer selbst wird.“ In dieser Version, die er sich wünscht, zeigt die EU Mut und Härte gegenüber den Parteien rechtsaußen. Bietet sichere Fluchtwege und sorgt dafür, dass es in Libyen keine Folter-Camps mehr gibt. Und fördert stärker Kunst und Kultur.

Falls Magid das EU-Parlament Ende Oktober verlassen muss, weiß er auch noch nicht, wie es für ihn weitergeht. Er ist zwar Meeresbiologe, aber das hat er einfach aus Interesse studiert, und nicht, weil er in diesem Bereich eine Karriere geplant hat. Die Unterwasserwelt fasziniert ihn trotzdem noch immer, er taucht gerne. „Hey Leute, habt ihr ein Lieblingsmeer?“, fragt er im Büro in Straßburg seine beiden Mitarbeiter, die konzentriert vor ihren Bildschirmen sitzen und tippen. Beide nennen das Mittelmeer. „Meins ist der Südpazifik“, sagt Magid. „Da gibt es die größte Vielfalt an Organismen!“ 

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