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Die Politik wird an ihrem Umgang mit Hanau gemessen werden

Es braucht keine leeren Versprechungen, sondern konkrete politische Pläne im Kampf gegen Rechtsextremismus, fordert unsere Autorin.
Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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„Heute vor zwei Jahren sind in Hanau neun Menschen gestorben, weil sie ausländische Wurzeln hatten.“ – Mit diesem Satz beginnt  das Instagram-Statement von Bundeskanzler Olaf Scholz anlässlich des Gedenktages in Hanau am vergangenen Samstag. Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Mercedes Kierpacz, Said Nesar Hashemi, Sedat Gürbüz und Vili Viorel Păun wurden am 19. Februar 2020 an mehreren Tatorten in der Stadt erschossen. Das Motiv des Täters: rechtsextrem und verschwörungsideologisch. Die Trauer sitzt noch tief – doch offenbar nur in den marginalisierten deutschen Communities. Selbst zwei Jahre nach dem Attentat sucht der deutsche Bundeskanzler den Grund für die Tat bei den vermeintlich „ausländischen Wurzeln“ der Opfer, nicht bei der rechtsextremen Gesinnung des Terroristen. 

Konkrete politische Maßnahmen seitens der Politik gab es nach dem Anschlag kaum, ebensowenig flächendeckende Solidarität. Bereits an den Folgetagen des Attentats feierten Hunderttausende in Deutschland ausgelassen Karneval und auch in diesem Jahr fanden am 19. Februar Prunksitzungen und Feierlichkeiten statt, während andere Menschen diesen Tag als Trauertag begreifen. Die Familien der Hinterbliebenen warten bis heute auf eine lückenlose Aufklärung der Tatnacht. 

Ein Armutszeugnis für die Erinnerungskultur. Der Satz „Hanau ist ein Angriff auf uns alle“ wird einmal mehr als leere Floskel entlarvt. Das wird auch deutlich an Postings wie denen der CDU, die auf Social Media am Gedenktag Hanaus in diesem Jahr „null Toleranz gegen Terror – egal aus welcher Richtung er stammt“ forderte. In einem Gastkommentar im Hanauer Anzeiger wünschte sich der CDU-Landtagsabgeordnete Heiko Kasseckert bereits 2021, Hanau solle wieder zur Normalität zurückkehren. Doch ist diese Normalität für alle Menschen in Deutschland erstrebenswert und ist die Rückkehr dahin überhaupt möglich? Um das strukturelle Problem mit Rechtsextremismus, das Deutschland hat, von innen heraus aufzuarbeiten, sollte die neu gewählte Ampel-Koalition sich an folgenden fünf Punkten orientieren: 

Benennung und Analyse von Rechtsextremismus  

Nicht nur nach dem Anschlag in Hanau fielen zahlreiche Medien mit einer von rassistischen Begriffen gespickten Berichterstattung auf. Es war die Rede von einem „psychisch gestörten Einzeltäter“, einem „fremdenfeindlichen Motiv“ und „Opfern mit ausländischen Wurzeln“. Narrative, die bis heute verwendet werden und zur Verharmlosung von Rechtsextremismus beitragen. Es braucht Sensibilisierung und Trainings für Medienschaffende und Politiker:innen, um rechten Terror als das zu benennen, was er ist. Und um die Schuld nicht bei den Opfern zu suchen. Im Koalitionsvertrag benennt die Ampel Rechsextremismus immerhin als die „derzeit größte Bedrohung unserer Demokratie“. Dennoch zählt das entsprechende Unterkapitel lediglich allgemeine Gesamtstrategien gegen Extremismen jeder Art auf und nennt keine Lösungsansätze zur Bekämpfung von konkret: Rechtsextremismus. Es braucht weniger rhetorisch vage Wortspielereien und mehr Taten, die auf diese Worte folgen.  

Finanzielle Hilfe und Erinnerungsorte für die Opfer und Hinterbliebenen

Zu Recht fordern Opferberatungsstellen und Bildungsinitiativen einen Hilfsfonds für Opfer von rechter Gewalt, Rassismus, Antisemitismus und deren Hinterbliebene. Bereits 2021 präsentierten die vier Landtagsfraktionen in Hessen, CDU, Grüne, SPD und FDP, ein Konzept für einen Opferhilfsfonds, allerdings unter dem Titel „allgemeine Kriminalität“, was scharf kritisiert wurde und zeigt: Die politische Landschaft tut sich noch schwer damit, Rechtsextremismus als eine reale Gefahr anzuerkennen und proaktiv dagegen vorzugehen.

Immerhin plant die Ampel unter anderem eine Errichtung eines Erinnerungsortes für die Opfer des NSU-Komplexes, der bis heute nicht lückenlos aufgeklärt wurde. Seit dieser Woche ist außerdem die SPD-Politikerin Reem Alabali-Radovan als erste Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus im Amt. Aber es braucht mehr als politische PR-Aktionen unter dem Deckmantel der Erinnerungskultur. Klar, politische Symbole können, klug eingesetzt, wichtige Signale setzen. Sie können aber auch komplett nach hinten losgehen, wie Bundeskanzler Scholz oder die CDU in den vergangenen Tagen gezeigt haben. Dazu gehört auch, dass Angehörige Trauerveranstaltungen nach ihrem Willen gestalten können. An der offiziellen Gedenkveranstaltung am vergangenen Samstag in Hanau gab es von den Angehörigen der Opfer Kritik, da nur 100 geladene Gäste zugelassen waren und Politiker:innen, auch von der AfD, teilweise Vorrang vor Freund:innen der Ermordeten erhielten. „Es macht mich fassungslos, dass unsere Wünsche an diesem besonderen Tag ignoriert wurden“, sagte Emis Gürbüz, die Mutter des ermordeten Sedat Gürbüz, dazu. 

Erkennen des Zusammenhangs zwischen Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus  

Von der Bundesanwaltschaft in Auftrag gegebene Gutachten vom forensischen Psychiater Henning Saß, der bereits im NSU-Fall Beate Zschäpe analysierte, bestätigen, dass der Attentäter von Hanau sowohl rechtsradikalen Ideologien als auch Verschwörungsideologien anhing und sich über mehrere Jahre hinweg im Netz radikalisiert hatte. Ein bedrohlicher Mix, der auch im Querdenken-Milieu immer wieder auftritt, doch im Koalitionsvertrag nicht gesondert aufgeführt wird. Zwar werden Verschwörungsideologien erstmals als verfassungsfeindlich eingestuft. Trotzdem wird nicht erwähnt, in welcher Form die Überwachung, Verfolgung und Vollstreckung dieser Straftaten erfolgen soll. Konkrete Maßnahmen zur Prävention solcher Anschläge und die Rolle des Verfassungsschutzes dabei finden in dem Unterkapitel zum Kampf gegen Extremismus im Koalitionspapier keine Erwähnung. Dabei ist es die Kernaufgabe des Verfassungsschutzes, näher hinzusehen – insbesondere bei demokratiefeindlichen Menschen. Daher stellt sich die berechtigte Frage: Wie ernst meint es die Ampelkoalition explizit im Kampf gegen die Radikalisierung von rechts?

Finanzierung von Präventions- und Deradikalisierungsarbeit 

Die rechtsextremen Anschläge der vergangenen Jahre in Europa und Deutschland zeigen auf, dass psychische Erkrankungen, Verschwörungsideologien und eine rechtsextreme, rassistische Grundhaltung nicht voneinander zu trennen sind. Beschäftigt man sich mit Anschlägen wie in Oslo und Utoya 2011, im Olympiazentrum in München 2016, dem Amoklauf in Bottrop 2019 oder dem Anschlag in Halle 2020, wird deutlich, dass die Radikalisierung der Attentäter überwiegend im Netz stattfand und Manifeste bereits im Vorfeld online gestellt wurden. Vermeidbare Anschläge? Darüber lässt sich streiten. Das Täterprofil? stets weiß, männlich, im mittleren Alter, gebeutelt von Rückschlägen und unerwiderter Liebe. Eine mögliche Lösung? Mehr Expert:innen, die Räume beobachten und analysieren, in denen sich die Täter aufhielten und aufhalten, mehr Finanzierung von politischen Präventions-und Deradikalisierungsprojekten und konsequentere Verfolgung von Hassrede und Radikalisierung im Netz. Das hat die Ampel zumindest theoretisch auf dem Schirm: Die Koalition will stärker gegen Hassrede angehen, zudem soll das Demokratiefördergesetz Grundlage für einen „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ sein, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser kürzlich ankündigte.

Rechte Netzwerke innerhalb der Polizei zerschlagen

Eine Spiegel-Umfrage bei den Innenministerien von Bund und Ländern ergab, dass es in den vergangenen Jahren innerhalb der Polizei in Deutschland mehr als 400 Vorfälle rechtsextremer, antisemitischer und rassistischer Art gab. Wenn man bedenkt, welche Gefahr rechtsextreme Strukturen innerhalb der Polizei darstellen und dass eine Rassismus-Studie längst überfällig ist, lesen sich die Passagen dazu im Koalitionsvertrag recht vage: Die Aus- und Fortbildung der Polizei soll weiterentwickelt und „noch intensiver die Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung vermitteln“. Gestärkt werden soll zudem die „Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche Einflüsse“. Diese Maßnahmen muss die Politik ernst nehmen. Denn für viele Menschen in Deutschland ist die Polizei nun mal nicht Freund und Helfer, sondern Aggressor.

 

Wenn es nicht schon Solingen, München oder Halle waren, dann ist spätestens Hanau zum Symbol von rechtsextremer Gewalt geworden. Die Politik wird daran gemessen werden, wie sie damit umgeht. Ja, dass die Bekämpfung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit Schwerpunkten rund um Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, insbesondere gegenüber Schwarzen Menschen, sowie Antiziganismus erstmalig in dieser Form in einem Koalitionsvertrag festgehalten wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ein Schritt, der schon vor Jahren hätte geschehen müssen. Der Ampelkoalition bleibt nur die Aufgabe, die politischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte in kurzer Zeit aufzuholen. Denn jeder weitere „Einzeltäter“ in Deutschland ist ein weiterer zu viel. 

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